Interview 
mit
Arne Leichsenring, Director Strategy & Finance bei 3pc
Mit der Entwicklung einer Digitalstrategie kommt für Unternehmen immer häufiger das Thema Wissensmanagement ins Spiel. Doch ‚Wissensmanagement‘ ist zunächst nur ein abstrakter Begriff – die Aufgabe muss in jeder Organisation individuell angegangen werden.
So kann es zum Beispiel bei einer Behörde, die ihre Arbeitsprozesse noch größtenteils analog organisiert, darum gehen, die Abläufe und das damit verbundene Wissen sukzessive zu digitalisieren und in ein großes System zu überführen. Ein internationales Unternehmen dagegen besitzt beispielsweise schon eine Vielzahl an Systemen – hier geht es eher um Konsistenz, Qualitätsmanagement und darum, das Wissen standortübergreifend den richtigen Abteilungen zur Verfügung zu stellen. Ein Start-up wiederum, das seine Systemlandschaft auf der grünen Wiese planen kann, interessieren entsprechend andere Aspekte. In anderen Fällen lässt sich immer wieder feststellen, dass in Firmen bereits diverse Formate zum Wissenstransfer wie beispielsweise Meet-ups existieren, diese jedoch nicht systematisch dem Wissensmanagement zugeordnet sind.
Auch werden bei der Erarbeitung technischer Lösungen oft große Systeme ins Spiel gebracht, die aber nicht die individuellen Anforderungen einzelner Fachbereiche oder Standorte erfüllen.
Im DOK.Interview erläutert Arne Leichsenring, Director Strategy & Finance bei 3pc, warum Wissensmanagement demnach weitaus mehr ist als die Bereitstellung einer großen Wissenslagerhalle, auf welchem Weg neue Strukturen erfolgreich im Unternehmen oder der Organisation etabliert werden können und wie eine Kultur des Lehrens und Lernens ganz entscheidend dazu beiträgt.
Herr Leichsenring, Sie beraten Organisationen und Unternehmen bei der Erarbeitung einer Wissensmanagement-Strategie. Welche grundsätzliche Erkenntnis sollte Ihrer Erfahrung nach am Anfang stehen?
Prinzipiell ist es wichtig, allen Beteiligten klarzumachen, was das Thema Wissensmanagement bedeutet: Wissensmanagement bezeichnet alle strategischen bzw. operativen Tätigkeiten, die auf den bestmöglichen Umgang mit der Ressource Wissen in der Organisation abzielen.
Es handelt sich hierbei also um weit mehr als ein Dokumenten-Management-System, eine große Wissenslagerhalle, wo alle ihr Wissen einlagern und bei Bedarf abrufen können. Eine solche Definition ist nicht zielführend, da es zu stark aus der Organisationssicht gedacht ist, Wissen der Mitarbeitenden anzuzapfen und in Systemen abzulegen.
Wissensmanagement braucht also eine multidimensionale Perspektive – wo fangen Sie an?
Ganz wichtig ist, dass man sich zu Beginn eines Projektes eine ganzheitliche Architektur überlegt. Das beginnt mit der Bestandsaufnahme: Welche Instrumente nutzen wir? In größeren Unternehmen ist das Intranet häufig so ein klassisches Instrument. Oder es gibt ein Dokumenten-Management-System, für das sich eine Ordnerstruktur und bestimmte Taxonomien etabliert haben. Der erste Schritt ist dann, die vorhandenen Strukturen zu sichten: Wo gibt es vielleicht Überschneidungen oder Redundanzen? Wo haben wir noch große Lücken? Gibt es vielleicht eine bessere Form der Darstellung? Des Weiteren spielt der jeweilige Reifegrad im Umgang mit der Ressource Wissen eine wichtige Rolle. Wie wird das Thema von den Mitarbeitenden aufgenommen – wird es eher als Last empfunden oder wehren sich die Menschen gar dagegen? Datenschutzaspekte spielen immer wieder eine Rolle. Deswegen gibt es auch keine Blaupause.
Was zeichnet erfolgreiches Wissensmanagement aus?
Die Erfahrung aus unseren Kundenprojekten zeigt, dass Wissensmanagement als wesentlicher Arbeitsbestandteil eines jeden Mitarbeiters zu betrachten ist, jedoch auch stark eine Führungsaufgabe ist. Insbesondere die Verantwortung für die Identifikation von erfolgskritischem Wissen liegt bei Führungskräften. Deren Aufgabe ist es auch, den hohen Stellenwert von Wissensmanagement im Team vorzuleben, Wissen zu verteilen und Mitarbeiter zu animieren, ihr Wissen z.B. in Formaten wie Lean Coffee oder Daily Stand-ups zu teilen und diese mit Leben zu befüllen. Das heißt, jeder muss seinen Teil dazu beitragen, den Wissenstransfer zu fördern, Wissensaspekte zu dokumentieren und Prozesse einzuhalten.
Jenseits dieser strategischen Aufgaben – welche Voraussetzungen für die Umsetzung muss parallel dazu gegeben sein?
Es muss eindeutig definiert sein, wo ich welches Wissen finde und wo dieses abgelegt oder geteilt werden soll. Dazu müssen die richtigen Instrumente und Tools zur Verfügung stehen, sei es z.B. ein digitales Archiv, die Serverstruktur, das Intranet oder ein Customer Relation Management-System (CRM) zur Pflege und Dokumentation von Kontakten. Aber auch schlanke Kommunikationstools wie Mattermost oder Slack sind wichtige Instrumente des Wissensaustauschs. Sie bieten die Möglichkeit, sich niederschwellig und schnell auszutauschen und das Wissen der Kollegen „anzuzapfen“. Hinzu kommt der allgemeine Trend, dass die interne Kommunikation und das Filesharing immer stärker zusammengeführt werden und heute ganz neue Formen der Kollaboration möglich werden. Lösungen wie Microsoft Teams oder Nextcloud sind die logische Konsequenz aus diesem Trend.
Wichtig ist also, dass es sich beim Wissensmanagement nicht um die eine große Lösung – die „eierlegende Wollmilchsau“ – handelt, sondern dass es um eine Kombination aus passgenauen Lösungen geht, die aufeinander abgestimmt sind. Redundanzen sind eine der wesentlichen Hürden, die es zu vermeiden gilt. Stattdessen: Klarheit schaffen. Hierfür sind entsprechende Prozesse unerlässlich.
Inwiefern?
Mithilfe von Prozessen wird definiert, wie die Systeme genutzt werden. Ganz wichtig ist, dass diese einmal eingeführt auch laufend überdacht und gegebenenfalls auch als Teil eines Qualitätsmanagements weiterentwickelt werden – das umfasst alle Bereiche von der Ordnerstruktur im SharePoint bis zur Kontakthistorie im CRM. Unternehmen sollten sich regelmäßig fragen, ob die Qualität noch passt, wo es eventuell Bugs gibt, wo Wissensbestandteile noch verknüpft oder vernetzt werden können und wie sich die Auffindbarkeit von Wissen ständig verbessern lässt, z.B. durch eine konsistente Definition von Metadaten, die KI-basierte Suchfunktionen begünstigen.
Wie sieht es mit Wissen aus, das sich nicht so einfach dokumentieren lässt, also zum Beispiel spezifische Erfahrungen oder Kompetenzen einzelner Mitarbeitenden, Teams oder Abteilungen?
Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt: Das implizite Wissen – im Gegensatz zum gut dokumentierten, explizitem Wissen – in den Köpfen der Mitarbeitenden ist eine der wichtigsten Ressourcen von Unternehmen. Dieses Know-how macht einen Großteil des vorhandenen Wissens in Organisationen aus. Das können Ideen, Neuigkeiten, Erfahrungen oder (Netzwerk-)Kontakte sein, die nirgends dokumentiert sind. Das wäre dann der dritte Aspekt neben den Systemen und Prozessen: digitale und analoge Wissensformate, die den Wissensaustausch fördern.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer Kultur des Lehrens und Lernens, also Dinge zu erfahren, aber auch weiterzugeben. Das Spektrum reicht vom regelmäßigen Stand-up bis hin zur großen Konferenz, aber auch E-Learning-Formate und Tutorials können den Wissenstransfer fördern. Dabei sollte immer individuell geschaut werden, welches Format im jeweiligen Kontext Sinn macht.
Wie können solche Formate zum Wissenstransfer dauerhaft institutionell verankert werden?
Voraussetzung dafür ist eine aktive und regelmäßige Teilnahme der Mitarbeiter, eine kontinuierliche Anpassung der Formate sowie ein klares Kommittent der Führung, diese Form des Wissensaustauschs als Teil der Organisationskultur zu begreifen – und nicht nur als „nice-to-have“. Aufgabe des Managements muss es deshalb auch sein, den Freiraum, die Ressourcen und Kapazitäten für Wissensformate bereitzustellen und Mitarbeiter zu motivieren, diese aktiv zu nutzen.
Können spezifische Tools bei diesem Vorhaben unterstützen?
Ja, zum Beispiel entwickelt 3pc im BMBF-Forschungsprojekt QURATOR gemeinsam mit Partnern aus Forschung und Industrie praxisorientierte Anwendungen auf Basis Künstlicher Intelligenz [1]. Denn aufgrund der Vielzahl an Instrumenten, die wir heute schon nutzen, wird eine gute Suche immer wichtiger, um auch medienunabhängig auf Informationen zugreifen zu können.
Inwiefern nimmt KI hier eine Schlüsselrolle ein?
Künstliche Intelligenz kann in diesem Zusammenhang tatsächlich einen entscheidenden Beitrag leisten. So entwickelt unser QURATOR-Partner Semtation beispielsweise Werkzeuge, mit denen sich Wissen unternehmensübergreifend zur Verfügung stellen lässt und auch Prozesse des Wissensmanagements erheblich vereinfacht werden können [2].
Durch die Optimierung und Vereinfachung der Prozesse leisten die neuen Technologien auch in anderer Hinsicht einen wichtigen Beitrag, nämlich alle Mitarbeiter in einer Organisation respektive eines Unternehmens für eine aktive Beteiligung am Prozess zu motivieren.
So kann man am Ende dieses Interview feststellen: Wissensmanagement ist kein Selbstläufer. Doch wie lässt sich die Strategie – Systeme, Prozesse, Formate – in die Praxis übersetzen?
Wissensmanagement folgt einer Bottom-up-Logik: Es muss immer von der kleinstmöglichen Einheit, vom Individuum, gedacht werden. Wie kann dem Einzelnen zum richtigen Zeitpunkt relevantes Wissen passgenau zur Verfügung gestellt werden. Als nächstes folgt die Teamebene, dann die Abteilung bis hin zur Gesamtorganisation. Je nach Ebene gibt es unterschiedlich relevantes Wissen, das mit der jeweilig passgenauen Lösung abgelegt und abgerufen werden kann.
Und natürlich muss es technische und inhaltliche Verantwortliche geben, die das Thema vorantreiben. Das kann Aufgabe einer eigenen Abteilung sein oder auch innerhalb einer bestimmten Abteilung als Führungsaufgabe angedockt werden. Wichtig ist es, den hohen Stellenwert von Wissensmanagement im Team vorzuleben. Ebenfalls ein wichtiger Aspekt ist der Zeithorizont. Eine gut durchdachte Roadmap ist essentiell, um die Veränderungen sukzessive und kollaborativ umzusetzen – denn hard cuts werden nicht funktionieren.
Herr Leichsenring, wir danken Ihnen für diese interessanten Ausführungen!
3pc begleitet seine Kunden aus Politik, Gesundheit, Kultur und Wirtschaft bei der digitalen Transformation und entwickelt anwenderorientierte Lösungen. Schon heute setzt die Berliner Agentur auf innovative AI-Lösungen, um die digitale Kommunikation zu verbessern und erforscht branchenspezifische Use-Cases. Der Ansatz ist dabei ganzheitlich und userzentriert – von der Gesamtstrategie über Interaktionsdesign und Vivid User Experience bis hin zur technischen Umsetzung.
Qurator 2020 – International Conference on Digital Curation Technologies
20. und 21. Januar 2020, Berlin
Auf der Konferenz werden Anwendungsfelder für Kuratierungstechnologien für verschiedene Branchen und Bereiche – Medien, Logistik, Kulturerbe, Gesundheitswesen, Energie und Industrie – vorgestellt und in Workshops konkrete Use Cases erarbeitet. Traditionelle Silos werden aufgebrochen: Künstliche Intelligenz und Semantic Web, Datenanalyse und Machine Learning, Informations-/Content- und Wissensmanagement-Systeme, Information Retrieval, Knowledge Discovery und Computerlinguistik – die Konferenz will bislang isoliert betrachtete Forschungsfelder zusammenführen.
qurator.ai/conference-qurator-2020
Referenzen
[2] siehe Beitrag ‚Per Anhalter durch den Wissensraum‘