Dokumentenmanagement & Industrie 4.0: Aufbruch zum smarten ECM

Autor – Dr. Dietmar Weiß, Geschäftsführer der Dr. Dietmar Weiß Beratung

Industrie 4.0 bezeichnet eine Entwicklung, die mit den zurückliegenden Revolutionen der Mechanisierung und mit der Massenproduktion und Automatisierung in einem Zuge genannt wird. Dies wirft die Frage auf, wie dieser Begriff in Bezug zu dem klassischen Verständnis des Dokumentenmanagements gesetzt werden kann. Blickt man dazu in die Umsetzungsempfehlung des grundlegenden Dokumentes aus dem Jahr 2012, wird der Begriff in der Fachliteratur wie folgt umschrieben: „Ein Kernelement der Industrie 4.0 ist die intelligente Fabrik – die Smart Factory. Sie zeichnet sich durch eine neue Intensität sozio-technischer Interaktion aller an der Produktion beteiligten Akteure und Ressourcen aus. Im Mittelpunkt steht eine Vernetzung von autonomen, sich situativ selbst steuernden, sich selbst konfigurierenden, wissensbasierten, sensorgestützten und räumlich verteilten Produktionsressourcen (Produktionsmaschinen, Roboter, Förder- und Lagersysteme, Betriebsmittel) inklusive derer Planungs- und Steuerungssysteme.“ [1]

Industrie 3.0: CIM & ERP-Systeme

Zur Begriffserläuterung und -abgrenzung soll der Bezug zum bekannten Fachbegriff Computer Integrated Manufacturing (CIM) geschlagen werden. CIM strebte in den 70er Jahren an, alle fertigungstechnischen Arbeitsabläufe und alle betriebswirtschaftlich-organisatorischen Steuerungsaufgaben in einem geschlossenen Gesamtsystem zu integrieren. Das Ergebnis sind die heute bekannten ERP-Systeme, mit denen man die Dispositions- und Produktionsprozesse steuern und abbilden kann. Mit zunehmender Dezentralisierung und vernetzter Zusammenarbeit werden diese geschlossenen Lösungen nunmehr auch via Internet miteinander verbunden und dezentral in den Maschinen mit IT-Technik und künstlicher Intelligenz angereichert. Die Steuerung erfolgt aber immer noch aus ERP-Sicht; bildlich gesprochen ähnlich zu einem Leitstand, von dem aus alles gesteuert wird, zu dem aber auch alle wesentlichen Informationen fließen.

Viele Ansätze sind in CIM enthalten, wie z. B. Just-in-time (JIT), Prozessorientierung und Team-Organisation. Aus der japanischen Automobilindustrie bekannt ist auch das Kanban-System, bei dem ein dezentraler, autonomer Ansatz zur Verbrauchssteuerung eingeführt wurde – und zwar „Abseits vom Leitstand“. Wenn Material an einem Standort oder in einer Kiste leer wird, wird eine Karte angebracht oder in eine Kanban-Nachrichtenbox gelegt und der Bedarf darauf notiert. Die Nachproduktion oder Beschaffung wurde so an die vorgelagerte Stelle direkt gemeldet, um das Material zu holen (Hol- oder Pull-Prinzip). Dieser Regelkreis funktionierte selbststeuernd und so perfekt, dass er in der amerikanischen und europäischen Automobilindustrie ebenfalls eingeführt wurde und mit anderen Maßnahmen aus Japan zur zweiten Revolution in der Automobilindustrie avancierte [2] und dem heutigen Verständnis von Industrie 3.0 entspricht:

Gestern
Industrie 1.0 und 2.0 Heute
Industrie 3.0 Morgen
Industrie 4.0
Super-system Analog Kommunikation
• Heimatmärkte
• Großrechner Internet und Intranet
• Exportmärkte
• PCs Internet der Dinge
Lokalisierte Märkte
• Mobil & Cloud Computing
System Neo-Taylorismus
• Vorratsfertigung
• Verrichtungsorientierung
• Meister-Organisation Lean Production
• JIT-Produktion
• Prozess-orientierung
• Team-Organisation
• Kanban Smart Factory
• Individualproduktion
• Resiliente Produktion
• Augmented Operations
Sub-system Mechanisierung
• Konv. Maschinen
• Arbeitspläne
• Zeichenbretter
• Handräder Automatisierung
• CNC-Maschinen
• ERP/MES
• 3D-CAD/CAD-CAM, CIM
• Bedienpulte Virtualisierung
• Social Machines
• Virtual Production
• Smart Products
• Mobile Devices
Der Weg zur Smart Factory und Systematisierung der Industrieansätze seit Erfindung der Dampfmaschine ([3])

Industrie 4.0: Automatisierte Produktionsprozesse

Nun wird mit Industrie 4.0 die Selbststeuerung als ein wesentliches Element gesehen und mit Hilfe von moderner IT und Sensorik automatisiert und für unternehmensübergreifende Produktionsketten geöffnet. Um im Bild zu bleiben: Das Kanban-Kärtchen wird nicht mehr manuell beschriftet und körperlich transportiert, sondern als Nachricht automatisch an den Bereitsteller geschickt – ebenfalls als Hol-Prinzip, aber eben auch über Standorte hinweg auf Basis elektronischer Nachrichten via Internet. Die Feststellung, dass die Kiste bald leer ist, wird nun nicht manuell, sondern durch Sensoren festgestellt.

Weiterhin kann man sich von der physischen „Kiste“ als Vorratsbehälter und Karte als Nachrichtenträger lösen, denn das Teil oder Produkt, welches hergestellt wird, meldet seinen Bedarf – beispielsweise für zwei M5-Schrauben – selbst und teilt seine definierte Zielform einer Drehmaschine selbst mit. Nach dem automatisch angeforderten Drehen werden die zwei Schrauben und andere Teile entsprechend angeliefert und automatisch oder manuell montiert.

Produktentwicklung mithilfe virtueller Modelle

Bevor das Produkt nun erstellt wird und seine „Bedarfe“ und „Fertigungsschritte“ kennt, entsteht es in der virtuellen Realität, damit man es ansehen, drehen und Tests (z. B. Belastungstests, Integrationstests) aussetzen kann. Es bestehen damit im Vorfeld festgelegte Verwendungstests und seine Verarbeitungsschritte und Stückliste sind bekannt und können auf einem RFID-Etikett als Bearbeitungsanweisungen für die Maschinen gespeichert werden. Das RFID-Etikett ist nun das moderne Kanban-Kärtchen. Auf Basis dieser Informationen teilt es Transportmitteln und Maschinen mit, wohin der Rohling oder die Teile zur Verarbeitung geleitet werden sollen und wie die Verarbeitung erfolgen soll. Wenn es fertig ist, wird das Ergebnis gemessen, bei Abweichungen erfolgt eine maschinelle oder manuelle Nachbearbeitung. Man spricht hier von „intelligenten Rohstoffen oder Produkten“.

Die Produktionslogik wird – im Vergleich zu dem bisherigen Verfahren – geradezu umgekehrt, denn nicht die Maschine bestimmt die Verarbeitung, sondern das zu bearbeitende Werkstück teilt der Maschine mit, was zu tun ist.

Automatische Wartung der Produktionsanlagen

Da die an dem Produktionsvorgang beteiligten Maschinen miteinander vernetzt sind, können sie darüber hinaus den eigenen Zustand selbst erkennen und mitteilen, damit ein Eingreifen rechtzeitig erfolgt, um Verschleißteile zu bestellen, Kühlflüssigkeit nachzufüllen oder Abfallbehälter zu leeren. Im Idealfall treffen die Wartungsteile und das Wartungspersonal bei der Maschine ein, ohne dass der „Betriebsführer“ eine Störung erfährt. Es werden also auch Zustände von Maschinen oder Teilen ausgetauscht.

Abstrakt formuliert besteht sie aus einer Basisebene von „physischen Objekten“, die als zweiten Bestandteil „Daten“ benötigen oder „konsumieren“, aber auch erzeugen. Die zusätzliche neue dritte Ebene stellt ein Dienstesystem dar, mit dem gesteuert und kommuniziert wird. Diese dynamisch verbundenen Dienste („Apps“) tauschen teilweise autonom die Daten miteinander aus.

EDM-Lösungen speichern produktrelevante Daten

All die Daten des digitalen Lebenslaufes zu den Eigenschaften des Produktes, aber auch zu den Produktionsprozessen selbst können gespeichert werden – etwa als Verfahrens- oder Produktdokumentation. Dabei erzeugen die Sensoren und Steuerungsprogramme enorm viele Daten in Echtzeit, die beim Produkt, der Maschine oder der Fertigungszelle abzulegen sind – oder verloren gehen, denn der RFID-Chip auf dem Werkstück speichert keine neue Daten ab.

Bereits bestehende Lösungen in diesem Bereich werden aktuell als elektronisches Datenmanagement-System (EDM-Lösungen) bezeichnet und halten produktionsrelevante Daten vor und nehmen diese auch auf. Letztendlich sollen diese umfangreichen Produkt- und Prozessdaten aus verschiedenen Quellen ganzheitlich abgelegt werden, um sie mit Aufbewahrungsfristen zu versehen, zu archivieren und nach einer gewissen Zeit auch zu löschen.

„Smart Factory“ stellt neue Anforderungen an ECM-Systeme

ECM-Lösungen sind für diese ganzheitliche Datenhaltung grundsätzlich geeignet, stehen aber in diesem Beispiel vor teilweise neuen Herausforderungen bezüglich der Ablage und Visualisierung von Zeichnungen, Produktionsdaten, Anleitungen, Reports und Integration zu Anwendungen, aber auch Infrastrukturbestandteile wie Maschinen. Denn es handelt sich vielmehr um Daten und Dateien als nur um Dokumente. Damit stellen sich Fragen und Anforderungen an die ECM-Infrastruktur selbst, aber auch an die Kopplung mit anderen Komponenten wie Maschinen, Sensoren, mobile Datenträger oder mit anderen Lösungen wie auch EDM-Systeme.

Denn Industrie 4.0 verfügt in seiner „Smart Factory“ neben der Datenebene über das oben genannte Dienstesystem. Die Datenebene kann an klassische ECM-Lösungen angeschlossen werden, Die Dienstebene würde diese Lösungen aber zu „smarten“ ECM-Lösungen anheben, das wäre eine neue Dimension.

Interessante Aspekte gibt es also genügend, wie beispielsweise:

• Es fallen Daten in Echtzeit an, die abzulegen sind.
• Diese Daten fallen dezentral an verschiedenen Punkten – autonom arbeitenden Diensten und Maschinen – an.
• Die Formatvielfalt wächst, denn Maschinen liefern andere und umfangreichere Formate als PDF-Dokumente, Office-Formate oder sonst übliche Dateien.
• Die Datenströme sind fallweise zu analysieren und zu zerlegen und gegebenenfalls vielfältigen Ordnungskriterien (Maschine, Teil, Gesamtprodukt, Auftrag, Kunde, Charge etc) zuzuordnen (ähnlich der klassischen COLD-Funktionalität).
• Die Ablieferung von Fertigungsdaten von Teilen und Maschinen an eine zentrale ECM-Instanz erfordert hohe Performance bei der Ablage und Transportwege zu einem zentralen ECM-System.

Grundsätzlich stellt sich damit die Frage, ob die zentrale Ablage dem Industrie-4.0-Konzept überhaupt noch entspricht. Denn, wenn ein zu bearbeitendes Teil die Bearbeitungsschritte den Maschinen und Transportmitteln mitteilt, sollte es nicht dann seinen Weg und seine Bearbeitung selbst archivieren, damit es die Plan- und Ist-Daten vollständig in sich trägt? Da RFID-Chips grundsätzlich nur in eine Richtung funken und keine Daten rasch aufnehmen und ablegen können, wären neue Technologien für die dezentrale Ablage mit Auslesen in ein Zentralsystem als Backup und zur Auswertung sinnvoll.

Fazit

Der Industrie-4.0-Ansatz erzeugt eine Menge Prozesse und Daten, die zu verarbeiten sind. Enterprise Content Management-Lösungen sind für die Ablage von Daten und Dokumente ausgelegt – aber auch für Daten aus Smart Factories des Industrie 4.0-Ansatzes?

Beantwortet werden muss in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Übertragbarkeit auf den ECM-Ansatz: Lässt sich der Industrie 4.0-Ansatz auf die Dokumentenlogistik übertragen und wäre das sinnvoll? Oder bringt der bestehende Workflow-Ansatz alles Notwendige für die Steuerung bereits mit? Wird etwa ein neuer „smarter ECM-Ansatz“ benötigt, der die Dienste der Smart Factory mit Daten und Prozessen bedient und selbst als Diensteanbieter selbständig Daten und Dokumente verarbeitet? Hier gibt es aus ECM-Sicht vermutlich etwas zu tun.

Literaturnachweis und Quellenangaben:
[1] vgl. Kagermann, Wahlster und Helbig (2012), Umsetzempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 S. 12 (Vorabversion, Berlin 2. Oktober 2012)
[2] Womack, J.P., Jones, D.T., Roos. D., (1990), Die zweite Revolution in der Autoindustrie, Frankfurt, New York. 1990
[3] Quelle: in Anlehnung an Kagermann, Wahlster und Helbig (2012), S. 12

dwb@dr-weiss.com

Dr. Dietmar Weiß unterstützt Unternehmen bei der Erstellung von Fachkonzepten, Prozessoptimierung, Einführung, Auswahl und Integration von Dokumentenmanagement- und Archivsystemen (ECM-Lösungen). Er hat Eingangsrechnungsbearbeitungssysteme in 15 europäischen Ländern eingeführt und für Installationen entsprechende Verfahrensbeschreibungen erstellt. Ein weiteres Spezialgebiet ist die Planung und Durchführung der Migration von ECM- und Archivsystemen.