Was bedeutet die Digitalisierung für den Einkauf – und wie kann seine neue strategische Position ausgestaltet werden?
Felix Dinnessen, Senior Consultant bei Cassini Consulting
Sven Hellmann, Partner bei Cassini Consulting
Welche Konsequenzen die Digitalisierung für den Einkauf von Unternehmen haben wird, hat – entgegen aller Bekundungen zur Bedeutung der neuen Technologien – noch recht wenig Beachtung gefunden. Aber auch für den Einkauf werden in naher Zukunft völlig neue, digitale Denkmuster entscheidend sein. Dabei sind agile Wertschöpfungsnetzwerke denkbar und sogar eine Umkehrung der alten hierarchischen Beziehung zwischen Einkäufer und Lieferant. Jeder Procurement Manager sollte sich daher die Frage stellen, welche Rolle der Einkauf in seinem Unternehmen zukünftig spielen wird – und ob er noch die richtigen Mittel im Einsatz hat, um angesichts der neuen Herausforderungen zu bestehen. Eines ist jedenfalls absehbar: Durch die Digitalisierung wächst die strategische Bedeutung des Einkaufs für den Unternehmenserfolg.
Die Herausforderungen durch die digitale Transformation können für den Einkauf in folgenden wesentlichen Punkten zusammengefasst werden:
- Der Einkauf muss Dienstleister und Lieferanten finden, die die Innovationsprozesse im Unternehmen voranbringen. Vor diesem Hintergrund spielt die tendenzielle Beschleunigung von Beschaffungszyklen ebenso eine Rolle wie neue Formen des Lieferanten-Scouting.
- Daten kommt zukünftig eine wachsende Bedeutung zu – nicht nur im Zuge eines vollständigen Unternehmens-Controllings, sondern auch, um fundierte Prognosen erstellen zu können. Der Einkauf wird sich folglich neue Datenquellen erschließen müssen und diese Daten auf neue Weise auszuwerten haben. Während einige Unternehmen aktuell sogar noch bei ihren Lieferanten nachfragen müssen, was über das Jahr eigentlich gekauft wurde, haben diejenigen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, bei denen diese Daten – verknüpft mit den Stammdaten jedes Lieferanten – umgehend vorliegen.
- Der Einkauf wird das Verhältnis zu Lieferanten anders ausgestalten müssen als früher. Denn die Lieferantenbeziehung der Zukunft wird viel stärker von Kooperation geprägt sein als bisher. Zugleich gilt es für den Einkauf, neue Formen des Onboardings kleinerer, neuer Lieferanten zu entwickeln – und gegebenenfalls des Abmanagens von Lieferanten.
- IT-Systeme übernehmen eine wachsende Rolle im Beschaffungsprozess. Unter den Bedingungen der Digitalisierung wird es in Zukunft praktisch unmöglich, ohne Softwareunterstützung für Effizienz zu sorgen. Beschaffungsprozesse werden ohne geeignete Beschaffungslösungen kaum noch auskommen. Entsprechend ist E-Procurement nach wie vor als riesiger Wachstumsmarkt zu betrachten.
- Kosten und Risiken müssen kontrolliert werden, sie zählen auch unter den Bedingungen der digitalen Transformation zu den zentralen Aufgaben für das Procurement. Wobei gerade durch die agilen Supply Chains der Zukunft – gegebenenfalls auch mit vielen kleineren Lieferanten – das Thema Risikomanagement noch stärker in den Fokus rückt.
Im Folgenden werden weitere Zusammenhänge zwischen diesen Punkten erläutert.
Durch die digitale Transformation ist der Einkauf mit neuen Herausforderungen konfrontiert (Quelle: Cassini)
Lieferanten als strategische Partner begreifen
Die klassische Aufgabe des Einkaufs beschränkte sich bislang auf einen fast ausschließlich operativen Fokus: Es ging darum, die benötigten Ressourcen mit hoher Zuverlässigkeit zu geringen Kosten zu beschaffen. Bei einer Einmal-Verwendung der beschafften Ressource bleibt dieses Modell, das seinen Erfolg vor allem an niedrigen Ausgaben misst, durchaus sinnvoll. Je größer aber der Beitrag des Zulieferers zur Wertschöpfung und zum wirtschaftlichen Erfolg des eigenen Unternehmens ist, desto stärker muss sich diese Beziehung intensivieren. Manche Lieferanten werden in eine Kategorie der Preferred Vendor vorstoßen. Durch eine stabilere Beziehung reduziert der Einkauf hier das Risiko und nutzt besondere Leistungen des Lieferanten.
Die nächste Stufe wird darin bestehen, den Lieferanten als Partner zu begreifen, zu dem das Unternehmen eine betont enge Beziehung eingeht. Diese Art Geschäftspartner kann Innovationen ganz anders unterstützen und in viel stärkerem Umfang zur Wertschöpfung beitragen. Das Ziel einer strategischen Partnerschaft ist ein beiderseitiges Business Alignment. Der besondere Wert einer solchen Geschäftsbeziehung kann sogar dazu führen, dass sich das alte hierarchische Muster von Besteller und Lieferant umkehrt – für den Einkauf ein völlig neues Denkmuster.
Agile Supply Chains unterstützen
Dem Einkauf kommt unter den Bedingungen der digitalen Transformation schon deswegen eine strategische Relevanz zu, weil Unternehmen in Zeiten immer kürzerer Produktzyklen und neuer, disruptiver Produkte grundsätzlich gezwungen sind, ihre Time-to-Market zu verkürzen.
Möglich wird dies aber nur, wenn auch die Supply Chain des Unternehmens flexibel und schnell genug ist. Darum ist absehbar, dass immer mehr Wertschöpfung in agilen, netzwerkartigen Supply Chains stattfindet. Während Agilität im Unternehmen früher meist isoliert auftauchte, gehen heute mehr und mehr Unternehmen dazu über, ihre gesamte Strategie agil zu gestalten. Für den Einkauf gilt es, darauf die richtige Antwort zu finden. Der Einkauf der Zukunft muss in der Lage sein, Agilität im Unternehmen zu unterstützen – im Innen- wie im Außenverhältnis.
Neue digitale Kompetenzen integrieren
Weil strategische Lieferantenpartnerschaften heute eine oft erfolgsentscheidende Relevanz bekommen, ist es unerlässlich, sie entsprechend sorgfältig aufzubauen und zu steuern. Es ist darum sinnvoll, wenn sich der Einkauf die Zeit nimmt, die nötig ist, um den geeigneten Partner zu bestimmen und die Partnerschaft wirklich zu vertiefen. Die Auswahl eines solchen strategischen Partners wird auch andere Ausschreibungsmodelle erfordern als bislang üblich. Belohnt wird diese größere Anstrengung des Einkaufs aber dadurch, dass er mit der strategischen Lieferantenpartnerschaft das Fundament zu einer agilen Projektumsetzung im Unternehmen legt.
Durch neue digitale Fähigkeiten – adaptiv, vernetzt, innovativ und effizient zu sein – adressiert der Einkauf die beschriebenen sechs großen Herausforderungen: Innovationen, Datennutzung, IT-Systeme, Lieferantenbeziehungen sowie Kosten und Risiken. Die strategischen Partnerschaften eines Unternehmens tragen dazu bei, dass das Unternehmen die übergreifenden Ziele seiner digitalen Transformation tatsächlich erreichen kann – etwa innovative Geschäftsmodelle zu schaffen, die Time-to-Market zu verkürzen, komplexe IT-Lösungen zu realisieren und brachliegende Informationsschätze zu heben.
Agile Verträge formulieren
Schon das berühmte Manifest zur Agilen Softwareentwicklung aus dem Jahr 2001 konstatiert, dass die Zusammenarbeit zwischen Partnern wichtiger sei als die vertragliche Ausgestaltung, Individuen und Interaktionen wichtiger als Prozesse und Werkzeuge, das Funktionieren des Produkts wichtiger als die umfassende Dokumentation und das agile Reagieren auf Veränderungen wichtiger als die starre Einhaltung eines Plans.
Entsprechend empfiehlt sich ein agiler Vertrag, der ohne zu viele Detailfestlegungen auskommt. Er muss vielmehr den Rahmen für eine vertrauensvolle Kooperation zwischen dem Unternehmen und seinem strategischen Partner bilden und die grundsätzlichen Möglichkeiten der Kooperation mit dem Lieferanten regeln. Dennoch ist der agile Vertrag nicht ergebnisoffen. Er darf durchaus das grundsätzliche Ziel, das Epic, formulieren und ausgewählte User Stories für die Leistungsbeschreibung nutzen. Dieser Vertrag bestimmt auch die Pflichten und Rechte der Partner, wie etwa die Teilnahme an Reviews, die Besetzung von Rollen im agilen Prozess etc. Und er regelt, was bei Verletzung der Kooperationsvereinbarung geschieht, indem er etwa Abbruchmöglichkeiten für Kunden oder eine Gutschrift für Dienstleister vorsieht.
Für beide Vertragsparteien ist es zentral, dass sie im Vertrag ausdrücklich das agile Prinzip anerkennen: Eine konkrete Lösung – also der Scope des Projekts – wird erst während des Projekts entstehen, durch Empirie, Zusammenarbeit und emergentes Wissen.
Résumé
Vom klassischen, hierarchischen Muster einer Einkäufer-Lieferanten-Beziehung ist eine strategische Lieferantenpartnerschaft, die nicht zuletzt die agile Projektumsetzung gestatten will, denkbar weit entfernt. Dennoch werden solche Partnerschaften für Unternehmen unumgänglich. Unter den Bedingungen der digitalen Transformation und angesichts immer stärker auf agilen Prinzipien beruhender Unternehmensstrategien verändert sich auch die Rolle des Einkaufs. Auch wenn der Einkauf in Zukunft nicht selbst nach agilen Prinzipien operiert, so muss er sich doch wandeln und lernen, mit der neuen Dynamik der strategischen Anforderungen des Unternehmens umzugehen.
Die neue zentrale Herausforderung für den Einkauf wird darin bestehen, Agilität im Unternehmen zu ermöglichen. Die Wahl geeigneter strategischer Partner und Lieferanten und die entsprechende Ausgestaltung agiler Verträge werden für den Einkauf essenzielle Aufgaben. Für die Umsetzung agiler Unternehmensstrategien wird dies erfolgsentscheidend sein.
Cassini wurde 2006 aus der Erkenntnis heraus gegründet, dass Digitalisierung und Transformation eine neue Form der Beratung erfordern. Visionär – geprägt von Pioniergeist; unternehmerisch – mit Beratern, die Macher sind; und wegweisend – mit Wissen, das Klienten zum Wettbewerbsvorsprung führt. Das Portfolio beinhaltet Business-, IT-Strategie-, Technologie- und Projektberatung. Über 170 Berater arbeiten an sechs Standorten in Düsseldorf, Berlin, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und München.