Autor: Roman Senderek,
Projektmanager im Bereich Dienstleistungsmanagement am FIR an der RWTH Aachen
Durch die Digitalisierung steht unsere Arbeitswelt vor einem bedeutenden Wandel, der sich nicht nur auf die Gestaltung von Arbeitssystemen und -strukturen bezieht, sondern auch die Anforderungen an die Fähigkeiten und Kompetenzen der Mitarbeiter deutlich verändern wird. Der in der Industrie 4.0 zunehmende Automatisierungs- und Komplexitätsgrad der Arbeitssysteme wird sich deutlich auf die Arbeitsaufgaben auswirken. So ist von einem Rückgang manueller Tätigkeiten und Routinearbeiten bei einer gleichzeitigen Steigerung wissensintensiver Tätigkeiten auszugehen. Dementsprechend übernehmen die Beschäftigten immer mehr kontrollierende und steuernde Aufgaben. Gleichzeitig werden Entscheidungen dezentralisiert, sodass auch die Verantwortung des Mitarbeiters auf dem Shopfloor zunehmen wird.
In diesem Zusammenhang ergeben sich zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen sind Unternehmen und ihre Belegschaften angesichts riesiger anfallender Datenmengen gefordert, mit der Fülle an Echtzeitdaten und vorhandenen Informationen kompetent umzugehen und daraus adäquate Handlungen ableiten zu können. Zum anderen steigt der Bedarf an Überblickswissen sowie System- und Prozessverständnis bei den Beschäftigten. Klassische Formen der Aus- und Weiterbildung können hierbei nur noch bedingt eine Lösung bieten. Das Lernen im Prozess der Arbeit mit technologischer Unterstützung gewinnt daher immer mehr an Bedeutung, um die mit der Digitalisierung einhergehenden Herausforderungen bewältigen zu können.
Konzepte für arbeitsintegrierte Formen des Lernens
Um die Beschäftigten für ihre zukünftigen Aufgaben zu befähigen, ist es erforderlich, Arbeits- und Produktionssysteme so zu planen und zu gestalten, dass sie arbeitsintegrierte Formen des Lernens und der Qualifizierung, unterstützt durch entsprechende Technologien, ermöglichen. Lösungsansätze hierzu werden derzeit in dem vom BMBF geförderten Verbundprojekt ELIAS (Engineering und Mainstreaming lernförderlicher industrieller Arbeitssysteme für die Industrie 4.0) erarbeitet. Sieben Unternehmen und Forschungseinrichtungen unter Führung des FIR an der RWTH Aachen verfolgen dabei das Ziel, neue Ansätze und Konzepte zur lernförderlichen Gestaltung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein Planungstool, das Unternehmen ermöglicht, anhand einer Auswahl arbeitsorientierter sowie technologiegestützter Lernformen individuelle und passgenaue Lernlösungen für ihre Arbeits- und Produktionssysteme zu konfigurieren.
Für das Projekt wurden klassische arbeitsorientierte Lernformen und neue technologiegestützte Lernformen umfassend analysiert und kategorisiert. Von den betrachteten 32 Lernformen wurden drei exemplarische Lösungen ausgewählt, die in der Demonstrationsfabrik Aachen implementiert werden. Bei der Demonstrationsfabrik Aachen handelt es sich um eine dem FIR angeschlossene reale Produktion von Prototypen und Produkten in Vorserie. So konnten die ausgewählten Lernlösungen im realen Betrieb erprobt und stetig weiterentwickelt werden.

Implementiert wurden ein webbasiertes Community-Information-Portal (CIP), ein digitales Assistenzsystem für die Unterstützung von Routinearbeiten und Anlernprozesse in der Montage mithilfe von Utility-Videos sowie eine mobile Applikation zur standardisierten Aufnahme und Speicherung von Fehlern direkt am Ort des Auftretens in der Vorserienproduktion. Mit dem Aufbau und der Implementierung des CIPs, das im Folgenden näher betrachtet wird, wird das Ziel verfolgt, die bisher im Unternehmen verteilt vorliegende Informationen verfügbar zu machen. Außerdem kann so das Potenzial des organisationalen Lernens besser genutzt sowie die Erweiterung des organisationalen Wissens gezielt gefördert werden.
Bewusster Umgang mit der Ressource Wissen – und deren gezielter Einsatz
Wissensmanagement spielt für die Produktion in der Industrie 4.0 eine signifikante Rolle. Denn durch die verstärkte Integration von Sensorik und Digitalmedien in die Arbeitswelt kann eine zuvor nicht erreichte Fülle an Daten und Informationen erfasst und bereitgestellt werden. Mitarbeiter müssen sich in immer kürzeren Abständen neue Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, um den steigenden Anforderungen gewachsen zu sein. Parallel dazu müssen vorhandene Erfahrungen und das Expertenwissen der Mitarbeiter im Unternehmen gehalten und gezielt weiter gefördert werden, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass es zunehmend schwieriger werden wird, qualifizierten Nachwuchs zu rekrutieren. Vor diesem Hintergrund nehmen das selbstorganisierte und das arbeitsplatznahe Lernen eine Schlüsselrolle für den zeitnahen und bedarfsgerechten Aufbau von Wissen und Kompetenzen ein. Allerdings ergeben sich hierbei mehrere Hemmnisse, wie beispielsweise mangelnde Konzepte der Erfassung, der Dokumentation und des Transfers von Expertenwissen.
Webbasierte Unternehmenswikis und Community-of-Practice-Portale können hierfür vielversprechende Lernlösungen darstellen. So haben Mitarbeiter die Möglichkeit, eigene Inhalte zu erstellen und diese für andere verfügbar zu machen, womit unternehmensrelevantes Wissen erfasst, transparent gemacht und bewahrt werden kann. Außerdem werden dadurch Mitarbeiter bei Recherche- und Lernprozessen unterstützt, da sie auf die Erfahrungen und das Vorwissen anderer zugreifen und sich untereinander austauschen können.
Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz von Wissensportalen
Um diese Lernszenarien in einem Unternehmen implementieren zu können, müssen verschiedene Rahmenbedingungen erfüllt sein. Entscheidend ist beispielsweise die Art der Tätigkeit, denn nicht für jede Arbeitsaufgabe erscheint ein Unternehmenswiki sinnvoll. Außerdem muss das Unternehmen über eine entsprechende technisch-mediale Infrastruktur verfügen, zumal die installierte Basis an Hard- und Software auch von wesentlicher Bedeutung für die Verfügbarkeit von Daten aus den unterschiedlichsten Quellen ist. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Unternehmenskultur. In Unternehmen, die die Wichtigkeit der Ressource Wissen anerkennen, die offen für Veränderungen sind und den Mitarbeitern Entscheidungsfreiheiten einräumen, werden diese Lernformen erfolgreicher umgesetzt werden können.
Konzepte der unternehmensinternen Wissensspeicherung und -verteilung dieser Art haben ihren Ursprung in den sogenannten Unternehmenswikis, die ab Mitte der 2000er Jahre verstärkt eingesetzt wurden. Die Einführung und Umsetzung solcher Wissensmanagementsysteme ist in der Vergangenheit nicht immer gelungen. Neben einer strukturierten Gestaltung sind eine gewisse Grundkompetenz für Teamarbeit und eine Flexibilität und Offenheit für den Informationsaustausch Voraussetzung für eine erfolgreiche Implementation von Unternehmenswikis. Das relevante Wissen wurde zwar anfangs zeitaufwendig und umfangreich in unternehmensinternen Wikis eingespeist, im Anschluss daran aber wenig genutzt oder weitergeführt. Gründe dafür sind beispielsweise innere Barrieren und Ängste, die Flut an Informationen nicht bewältigen zu können, aber auch mangelnde aktive Beteiligung durch die Mitarbeiter. Laut einer Studie aus dem Jahr 2012 wurden, trotz vieler propagierter Vorteile, nur etwa 7 Prozent unternehmenseigene Wikis genutzt.
Förderung der intrinsischen Motivation
Demgemäß befasst sich die Forschung seit geraumer Zeit mit der Frage, wie Mitarbeiter durch äußere Anreize zu einem verstärkten Engagement in Communities of Interest motiviert werden können. Hierbei wurde im Rahmen der Forschungsarbeiten am FIR herausgearbeitet, dass für eine gezielte Förderung der Partizipation von Mitarbeitern individuelle Anreizsysteme eingesetzt werden können. Dazu zählen positive Anreize wie Belohnungen oder negative Anreizfaktoren wie Strafen oder monetäre Einbußen. Um die Mitglieder über eine bloße Teilnahme hinaus zu motivieren und in die Erstellung von Inhalten einzubinden, können die Anreize sowohl monetärer als auch nichtmonetärer Art sein. Die Schaffung materieller Anreizsysteme ist vor allem durch Bounty-Programme gekennzeichnet. Bounty-Programme zielen auf eine finanzielle Belohnung für die Ermittlung von Fehlern, die Erarbeitung von Lösungen oder auch auf die Erstellung von Beiträgen ab. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass diese nur kurzfristig motivieren.
Erfolgversprechender ist es, die intrinsische Motivation der Mitarbeiter zu fördern. Wenn diese einen Sinn in ihrer Arbeit erleben und sich als einen wichtigen Bestandteil des Gesamtsystems empfinden, scheint das die größten Effekte zu erzielen. Hierfür eignen sich soziale Anreizsysteme. Dazu zählt neben Reputations- und Leistungssystemen insbesondere die Vergabe von Privilegien. Durch eine entsprechende Punktevergabe für die Erreichung bestimmter quantitativer oder qualitativer Leistungsgrade kann ein Community-Mitglied einen höheren Rang erlangen. Dies stiftet wiederum einen Anreiz, Beiträge zu leisten, zumal positive Bewertungen die Reputation der Mitglieder stärken und sich folglich vorteilhaft für weiteren Austausch zwischen den Mitgliedern auswirken.
Aktive Partizipation in Form einer Community of Interest
Für das CIP wurden daher die Anforderungen der Mitarbeiter aufgenommen. Als wichtige Elemente, um die Motivation der Nutzer zu steigern, wurden eine personalisierte Oberflächengestaltung sowie eine Punktevergabe implementiert. Nutzern wird es so ermöglicht, relevante Informationen schneller zu finden und auch entsprechendes Feedback beizutragen. Um die Qualitätssicherung der Inhalte sowie einen übersichtlichen und einheitlich strukturierten Seitenaufbau zu gewährleisten, werden die durch fachliche Experten erstellten Inhalte von einem Redakteur editiert, formatiert und durch einen weiteren fachlichen Experten geprüft. Die Mitarbeiter können darüber hinaus Vorschläge für die Erstellung von neuen Beiträgen machen, woraufhin ein Themenverantwortlicher gewählt wird. Für eine aktive Partizipation sind die Mitarbeiter dazu angehalten, aktiv Bedarfe aufzudecken, sodass der Wissenszuwachs gefördert wird.

Ziel ist es, das CIP so zu gestalten, dass einerseits neue Mitarbeiter effizienter eingearbeitet werden können, da die Informationszugänglichkeit erleichtert wird. Andererseits wird das Teilen von Wissen von verschiedenen Orten durch mobile Endgeräte ermöglicht, sodass Mitarbeiter einen standortunabhängigen Zugriff auf Informationen haben und die Vernetzung von Beschäftigten unterschiedlicher Unternehmensbereiche gefördert wird. Weiterhin werden eine stetige Bewertung des Wissenskapitals sowie eine Überprüfung der Wissensnutzung im Arbeitsalltag durchgeführt.
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Roman Senderek ist Projektmanager im Bereich Dienstleistungsmanagement am FIR an der RWTH Aachen. Das FIR ist eine gemeinnützige, branchenübergreifende Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung. Das Institut forscht, qualifiziert, lehrt und begleitet in den Bereichen Dienstleistungsmanagement, Informationsmanagement, Produktionsmanagement und Business-Transformation.