Im Kontext der Diskussion rund um Industrie 4.0 findet auch dieses Buzzword sehr oft Erwähnung: Flexibilität. Doch die Vielseitigkeit wird pauschal gefordert – quasi schon fast als Grundvoraussetzung, um im globalen Wettbewerb nicht unter die Verlierer der digitalen Transformation zu geraten. Doch wer muss hier was erbringen, damit sich tatsächlich auch das neu entstehende Potential voll ausschöpfen lässt? Die Antwort ist ganz einfach. Im Prinzip wird letztendlich von jedem Beteiligten in der Wertschöpfungskette verlangt, flexibel zu agieren. Allerdings, so zeigt sich, wird der Begriff momentan noch sehr beliebig eingesetzt, und sehr variant ausgelegt.
Von Ulla Coester, Journalistin, Beraterin und Coach
Der ‚Information Worker’ in der Industrie
Für einige Experten, wie Prof. Dr.-Ing. Fabian Hemmert, Spezialist für Interface- und User-Experience Design an der ‚Bergische Universität Wuppertal’, bringt die Diskussion bezüglich der Flexibilität nicht viel Neues zutage – seines Erachtens hat sich der Trend hin zu einer flexibleren Arbeitsweise bereits seit einigen Jahren etabliert: dank mobiler Endgeräte inklusive entsprechender Technologien wie der Cloud ist es vielen Arbeitnehmern möglich, Zeit und Umgebung zur Erledigung ihrer Aufgaben relativ frei zu wählen. Diese Art der Flexibilisierung ist jedoch vorrangig für die so genannten „Information Worker“ praktikabel. Bezogen auf die Produktion gelte es laut Burkhard Röhrig, Geschäftsführer der GFOS mbH, die Voraussetzungen erst noch zu schaffen: ein erster Ansatz ist, dass sich hier – dank neuer Softwarelösungen – die Einsatzpläne weitmöglich flexibel angepasst an die Bedürfnisse der Mitarbeiter gestalten lassen. Zwar ein Anfang, aber nach Ansicht von Howard Heppelmann, General Manager, IoT Manufacturing Solutions, PTC, lässt sich aus dem Flexibilitätsgedanken ein genereller Entwicklungsprozess für die Wirtschaft induzieren, der seine Wirkung entfaltet, wenn die verschiedenen Variablen zusammenspielen: Mitarbeiter, die sich den veränderten Arbeitsbedingungen kontinuierlich anpassen, Unternehmen, die einen Sinn für die Vorteile des Einsatzes von neuen Technologien entwickeln und letztendlich die konsequente Nutzung von Informationen plus der entsprechenden Analysewerkzeuge, um konsekutiv die Flexibilität der Produktionsabläufe und -linien optimal zu etablieren. Doch soll dies nicht als rigide Zukunftsprognose verstanden werden, erklärt Andreas Sattler, Vice President Human Resources bei PTC, dieser Ansatz zeige lediglich auf, wie sich zukünftig der Fortgang gestalten lässt, um Chancen resultierend aus der Flexibilität bestmöglich zu nutzen
Flexibilität – Austarieren der Bedürfnisse
Heppelmann geht davon aus, dass allgemein die Arbeitsbedingungen durch eine flexiblere Organisation verbessert werden können – nicht nur für die Mitarbeiter im Büro, sondern ebenso für diejenigen in der Produktion. Warum? Weil durch den Einsatz von Technologie mehr Möglichkeiten geschaffen werden, um den Aufgabenbereich nicht nur zu erweitern, sondern auch anzureichern. In der Produktion beispielsweise wird es zukünftig nicht mehr notwendig sein, dass ein Mitarbeiter den ganzen Tag eine gleichförmige Routinetätigkeit ausüben muss, weil er nur für diese ausgebildet ist. Im Gegenteil ließe sich dies zum Beispiel dadurch minimieren, dass hier über Augmented Reality die, jeweils für einen Produktionsschritt notwendigen, Arbeitsanweisungen individuell zur Verfügung gestellt werden.
Für die Information Worker haben sich durch das mobile Arbeiten bereits Möglichkeiten eröffnet, welche nachweislich dazu dienen können, um die Mitarbeiterzufriedenheit zu steigern. Diese positive Erfahrung hat Andreas Sattler gemacht, nachdem ein entsprechendes Konzept in seinem Unternehmen umgesetzt wurde. Kaum verwunderlich, denn im Prinzip liegen hier die Vorteile klar auf der Hand: Wenn der Arbeitgeber die Option bietet Zuhause zu arbeiten und von dort aus auch an Meetings teilzunehmen, dann „verschwenden Mitarbeiter keine Zeit für Anfahrtswege ins Büro oder können Stauzeiten vermeiden“ und, ganz wichtig, es ist ihnen möglich, berufliche sowie private Zeit optimiert aufeinander abgestimmt zu planen. „Natürlich verlangt das vom einzelnen Angestellten in großen Teilen auch ein eigenverantwortliches Handeln,“ so Sattler. Zum einen in der Hinsicht, dass jeder selber darauf achten müsse, Ruhephasen einzuplanen und nicht ständig verfügbar zu sein. Zum anderen jedoch seine Freizeitphasen so zu organisieren, dass die Arbeitsabläufe der Kollegen im Team nicht durch die Abwesenheit behindert würden.
Die Gesetze lassen hier nach Ansicht von Rechtsanwalt Dr. Timo Karsten, Partner bei Osborne Clarke bereits heute den notwendigen Spielraum, um den Wandel einzuleiten. „Natürlich gibt es Rahmenbedingungen, die vorhanden sein müssen, um den Mitarbeiterschutz auch weiterhin zu gewährleisten“, so Karsten. Dazu gehöre unter anderem, dass „Arbeitszeitguthaben auch im Minus geführt werden können, also im Prinzip ein negatives Zeitkonto möglich ist“. Oder auch bestimmte Sorgfaltspflichten der Arbeitgeber, der darauf zu achten habe, dass etwa die notwendigen Erholungszeiten nicht ganz wegfallen dürften. Dass aktuelle Regelwerke einer Umgestaltung nicht im Wege stehen kann Andreas Sattler bestätigen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich eine Umgestaltung relativ reibungslos realisieren lässt, wenn eine gute Verbindung zu der Belegschaft besteht.“
Stolperfallen erkennen und beseitigen
Der Qualifizierungsbedarf im Kontext der Digitalisierung ist allgemein hoch, nicht nur im Bezug auf die Ausbildung. So vertreten verschiedene Experten die Ansicht, es wäre ebenso wichtig, dass jeder Mitarbeiter – auch im Shopfloor – versteht, welche Auswirkungen die Einführung neuer Technologien speziell auf seine Stelle hat. Dazu gehört auch, dass der Einzelne exakt weiß, wie sein Jobprofil aussieht. Zum einen lassen sich so die diffusen Ängste abbauen. Zum anderen ermöglicht diese Vorgehensweise individuell, eine Identifikation mit dem Arbeitsplatz zu schaffen. Denn diese könnte aufgrund der Flexibilität verloren gehen, so befürchten Wissenschaftler wie Prof. Pamela Hinds von der Stanford University, weil von den Mitarbeitern verlangt wird, beständig den Tätigkeitsbereich zu wechseln und immer dort Einsatz zu zeigen, wo es gerade erforderlich ist.
Aber auch die erhöhte Geschwindigkeit durch den zunehmenden Einsatz von Technologie ist ein Thema, das der Aufmerksamkeit bedarf. Denn nicht zuletzt ist dadurch die Erwartungshaltung entstanden, dass auf Anfragen von Vorgesetzten und Kollegen immer unmittelbar reagiert werden muss. Hier bedarf nach Ansicht von Prof. Hemmert noch einer abschließenden Klärung, welche Auswirkungen daraus resultieren und was daraus konsequenterweise abzuleiten ist beziehungsweise wie die Verantwortlichen in den Unternehmen darauf zu reagieren haben. Auch Andreas Sattler sieht in diesem Punkt Diskussionsbedarf. Seines Erachtens ist die Frage nach der gewünschten Kultur in einem gesellschaftlichen Diskurs zu erarbeiten.
Fazit
Die Umgestaltung eines Unternehmens lässt sich keinesfalls von heute auf morgen gestalten: nicht zuletzt, weil der Balanceakt zwischen dem Schutz der vorhandenen Unternehmenswerte und der notwendigen – eventuell disruptiven – Transformation mitnichten trivial ist. Zudem macht die Einführung neuer Technologien einen Kulturwandel erforderlich – auf allen Unternehmensebenen. Hierzu muss einerseits die Geschäftsleitung die Notwendigkeit zur Einführung neuer Technologien akzeptieren und diese dann im nächsten Schritt den Mitarbeitern vermitteln. Bedingt durch äußere Umstände wie Fachkräftemangel kann dabei ein gewisser Zeitdruck entstehen, weil für junge Mitarbeiter die Modernität des Arbeitsplatzes ein wichtiges Entscheidungskriterium darstellt. Andererseits gilt es den gesamten Prozess so zu gestalten, dass die vorhandene Belegschaft diesen mitgehen kann und kein zu großer Graben durch die unterschiedlichen Anforderungen entsteht.
Letztendlich kommt es entscheidend darauf an, dass die Flexibilität ausbalanciert ist – hierzu bedarf es nach Meinung von Andreas Sattler der richtigen Rahmenbedingungen, die, unter anderem, ganz klar definierte Grenzen stecken. Auch wenn er hier einen gewissen Regelungsbedarf bei der Politik sieht, so denkt er doch, dass – unter Effizienzgründen – die Gestaltung der Regeln zur Zusammenarbeit größtenteils den Unternehmen selber überlassen werden sollte. „Im Endeffekt“, bestätigt auch Heppelmann, „trägt jeder die Verantwortung dafür, die neue Freiheit im richtigen Maße und die Technologie verantwortungsvoll zu nutzen, damit für alle ein positives Resultat dabei herauskommen kann.“
Ulla Coester arbeitet als Beraterin und Coach. Ihre Tätigkeit umfasst neben der Strategieentwicklung die Planung und Durchführung von Maßnahmen für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing bis hin zur Organisation von Events sowie Teamentwicklung- und Projekt-Moderation. Als Mitbegründerin der Plattform www.xethix.com beschäftigt sie sich seit fünf Jahren mit digitalen Trends sowie deren Auswirkungen auf Unternehmen und Gesellschaft – die Digitalisierung im Bezug auf Industrie 4.0 ist ihr Spezialgebiet. Seit 2016 ist Ulla Coester als Dozentin an der Hochschule Fresenius, Köln tätig.