Zündstoff: Die Frage nach der Produktivität

Autor – John Newton ist Gründer und Chief Technology Officer, Alfresco

„Im Zentrum vieler ECM-Initiativen stand in den letzten Jahren das Thema Social Business. Der Hype entstand nicht zuletzt deshalb, weil sich die Unternehmen erhofften, dass sie mit Social Media etwas erreichen, was traditionelles ECM bislang nicht erfüllen konnte: einfache und smarte Zusammenarbeit. Aber es hat sich gezeigt, dass dieses Versprechen nicht eingelöst werden konnte. Denn Social Media steigern meist nicht die Produktivität, im Gegenteil. Sie senken diese vielmehr, wie sich aus vielfacher Erfahrung mittlerweile gezeigt hat.“

Dieses Statement von John Newton, Gründer und CTO von Alfresco, haben uns veranlasst, genauer bei ihm nachzufragen:

Herr Newton, Sie fordern Unternehmen auf, die Produktivität ihrer Initiativen für Enterprise Information Management (EIM) und Enterprise Content Management (ECM) auf den Prüfstand zu stellen. Warum gerade jetzt?

Als Early Adopter habe ich mich seinerzeit begeistert auf Facebook, Twitter und Quora gestürzt und dann aber festgestellt, dass die in den Netzen verbrachte Zeit mir bei meinen eigentlichen Aufgaben fehlte. Aber neue Technologien sollten uns im Job nicht ablenken, sondern sie müssen uns vielmehr dabei helfen, uns stärker auf das Wesentliche zu fokussieren. Dazu müssen sie nicht nur einfach zu bedienen sein, sondern auch noch viel stärker „natürliche“ Arbeitsweisen mit einbeziehen – also solche, die uns aus der analogen Welt vertraut sind. Das erfordert neue Ansätze und derer gibt es zum Glück genug. Nur finden sich diese vor allem im Bereich der IT für Konsumenten, in die derzeit ein Großteil der Kreativität der IT-Branche fließt. Social Media wie Facebook und Twitter sind Spielzeuge für die Privatkommunikation. Die Frage aber lautet, ob diese auch helfen, Unternehmen voranzubringen? Es ist Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme gängiger IT-Instrumente.

In Ihren letzten Vorträgen gehen Sie sogar so weit zu behaupten, dass traditionelle ECM-Systeme für die zukünftigen Produktivitätsmaßstäbe gänzlich ungenügend sind. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Kurz und knapp: Der Arbeitsplatz des 20. Jahrhunderts ist nicht auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts ausgelegt! Forschungen der Federal Reserve Bank of San Francisco aus dem Jahr 2014 belegen [1], dass die IT, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, seinerzeit die Produktivität der Unternehmen erheblich steigerte. Umgekehrt zeigte sich aber auch, dass große Unternehmen, die immer noch IT aus dieser Ära einsetzen, heute an Produktivität verlieren. Das Brookings Institute [2] hat dieses Phänomen genauer untersucht und nachgewiesen, dass die Ursache für die sinkende Effizienz veraltete IT-Architekturen sind. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Neue Technologien verhelfen neuen Märkten und sogar ganzen Volkswirtschaften zu einem Aufschwung. Wie etwa beim deutschen „Wirtschaftswunder“. Wer nach dem Krieg an Fertigungsmethoden aus Zeiten der Industriellen Revolution festhielt, geriet ins Hintertreffen.

Welches sind die entscheidenden Faktoren, die Unternehmen heute zu mehr Produktivität verhelfen?

Um effizient zu sein, müssen die Fachkräfte von heute so schnell wie noch nie reagieren können. Als Voraussetzung für diese hohe Agilität sehe ich als ersten wesentlichen Punkt, dass sie benötigte Informationen schnell finden. Daher müssen wir die Suche so intuitiv wie nur möglich gestalten. Die Suchmaschinen im Internet setzen hier nicht nur Maßstäbe, sie trainieren auch ein ganz bestimmtes Suchverhalten. Enterprise-Anwendungen müssen sich daran messen lassen.
Der zweite wesentliche Punkt ist eine nahtlose Collaboration. Dokumente und andere Dateien mit relevanten Informationen werden zusammen mit Kollegen, Partnern, Kunden und Dienstleistern bearbeitet. Daher muss der durchgängige und sicherer Zugriff und Austausch diesseits und jenseits der Firewall gewährleistet sein. Essenziell ist es, auch die begleitenden Workflows ohne Brüche – das heißt insbesondere auch: ohne Medienbrüche – zu gestalten.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihre Initiativen nicht nur Geld kosten, sondern auch Vorteile bringen? Und wie können sie Bereiche mit Verbesserungspotenzial identifizieren?

Ganz einfach: indem sie es messen. Analytics sind wichtig für die Beurteilung von Maßnahmen, nur so kommt man zu belastbaren Erkenntnissen jenseits des Bauchgefühls. Analyse- und Statistikwerkzeuge sagen mir unverblümt: Wie gut bin ich und wo könnte ich noch besser werden. Moderne ECM-Plattformen bieten solche Auswertungen auf Inhalte und Prozesse übrigens bereits out of the box.

Was können Unternehmen von einer zeitgemäßen Prozessunterstützung erwarten?

Die heutige komplexe Arbeitswelt muss durch das System beziehungsweise durch die Workflows abbildbar sein. Wir müssen dabei von einer statischen zu einer dynamischen Sichtweise übergehen: Das bedeutet beispielsweise, dass sich die einmal eingerichteten Prozesse später schnell und einfach an neue Gegebenheiten und Anforderungen anpassen lassen. Schließlich ändern sich unsere Abläufe ständig, sei es durch interne Umorganisation, sei es durch Vorschriften des Gesetzgebers. Zudem dürfen die Prozesse, wie schon gesagt, an der Firewall meines Unternehmens nicht Halt machen. Sie muss für den Austausch durchlässig sein, dabei aber gut kontrollierte Pforten haben. Dies ist einer der Schlüssel zum derzeit so viel diskutierten „Digital Enterprise“. Nur, wenn wir es wirklich schaffen, Medienbrüche komplett zu vermeiden, wird aus der Utopie produktive Realität. Technologisch ist dies heute machbar.

Wenn dies alles schon möglich ist: Ist ECM dann bereits am Ende seiner Entwicklung angelangt?

Sicherlich nicht. Gerade weil unsere Arbeitswelt einem ständigen, rasanten Wandel unterliegt, und ECM diesen Wandel unterstützen muss, entwickelt es sich laufend weiter. Denken Sie nur an das Thema Digital Asset Management, also die Einbindung multimedialer Inhalte: Vor 15 Jahren war die Frage, wie man mit Videos umgeht – wenn überhaupt – ein Content-Randgebiet. Heute sind Videos überall zu finden, ebenso wie Fotos oder Infografiken. ECM musste sich also in Richtung Digital Asset Management weiterentwickeln. Oder nehmen wir das aktuelle Thema Apps. Um neue Business-Szenarien und Geschäftsmodelle zu unterstützen, muss die IT-Entwicklung heute viel schneller sein – leicht konfigurierbare Apps lösen schwerfällige, langwierige Eigenentwicklungen ab. Ich glaube, wir stehen hier erst am Anfang und werden in Zukunft noch viel mehr Apps sehen, die genau auf individuelle Geschäftsprozesse zugeschnitten sind.

Wenn wir über die Zukunft sprechen: Wie wird der Arbeitsplatz von morgen Ihrer Ansicht nach aussehen – sagen wir in zehn Jahren?

Als CTO tausche ich mich ständig mit Visionären, IT-Architekten und Entwicklern aus, die an neuen Lösungen arbeiten. Ihr Ziel ist es, uns das Arbeiten zu erleichtern und zu helfen, anstehende Aufgaben fokussiert zu erledigen. Sie experimentieren beispielsweise mit speziellen, intelligenten Räumen. Diese verstehen nicht nur, wer sich gerade darin befindet und was gesagt wird, sondern stellen auch benötigte Informationen passend zum Kontext bereit. Umgebungstechnologie, die auch Touchscreens beinhaltet, macht Wissen jederzeit und überall verfügbar. Gleichzeitig wird künstliche Intelligenz so ausgereift sein, dass sie erkennt, ob wir Hilfe benötigen. Falls ja, stellt sie diese bereit: So enthalten Applikationen mehrere intelligente Assistenten, die uns als Experten bei der Arbeit mit diesen Anwendungen zur Seite stehen. Es ist ungemein faszinierend, sich damit auseinanderzusetzen und den Arbeitsplatz von morgen mitzugestalten.

Herr Newton, haben Sie vielen Dank für diesen interessanten Gedankenaustausch.

Zitatnachweise
[1] Productivity and Potential Output Before, During and After the Great Recession, Federal Reserve Bank of San Francisco, June 2014.
[2] Brookings Institute, The Other Aging of America: The Increasing Dominance of Older Firms by Ian Hathaway, Robert Litan (July 2014), http://www.brookings.edu/~/media/research/files/papers/2014/07/aging%20america%20increasing%20dominance%20older%20firms%20litan/other_aging_america_dominance_older_firms_hathaway_litan.pdf (aufgerufen 30.1.2015).

www.alfresco.de

John Newton ist Gründer und Chief Technology Officer von Alfresco und gilt als Pionier der ECM-Branche. Mit der Open-Source-Technologie von Alfresco können globale Unternehmen effektiver zusammenarbeiten – und das sowohl mobil, innerhalb von Cloud- oder Hybrid-Umgebungen sowie on-premise. Das 2005 gegründete Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Maidenhead bei London, die US-Zentrale befindet sich in San Mateo.