Autor – Andreas Ahmann, Bereichsleiter Forschung und Entwicklung, Ceyoniq Technology GmbH
Ob Star Wars, Terminator oder Minority Report: Der lässige Umgang, den unsere Hollywood-Helden schon lange mit der virtuellen Realität gepflegt haben, hat zweifellos viele Entwicklungen von heute inspiriert. Doch handelt es sich bei der Vielzahl der aktuellen Errungenschaften im Bereich der virtuellen oder „erweiterten“ Realität tatsächlich um sinnvolle Anwendungen oder eher um medienwirksame Spielereien, die zeigen sollen, was technisch möglich wäre?
Die Analysten scheinen sich mittlerweile ein mehr und mehr einhelliges Urteil gebildet zu haben: Sie sagen der Augmented Reality rosige Zeiten voraus. Im Frühjahr schätzte das Beratungsunternehmen Digi-Capital das Umsatzpotenzial für den Markt von AR-Anwendungen für das Jahr 2020 auf 120 Milliarden US-Dollar. Das Analystenhaus Tractica sieht die Zukunft der „erweiterten“ Realität ähnlich optimistisch: In einer aktuellen Studie prognostizieren die Marktforscher einen Anstieg der Downloads von AR-Applikationen aus mobilen App-Stores von 272 Millionen (2014) auf 1,2 Milliarden Downloads im Jahr 2019. Die US-Analysten sehen hier vor allem die Gaming- und Unterhaltungsindustrie als Innovations- und Wachstumsmotor, aber auch in den Bereichen Handel, Bildung, Marketing und Industrie werde die Technologie eine immer wichtigere Rolle spielen.
Der Hauptgrund für die zuletzt stark ansteigende Euphorie rund um den Einsatz von AR-Technologien liegt in den jüngsten Fortschritten bei Datenbrillen und Software begründet. Ob Oculus Rift, Samsung Gear VR oder Zeiss VR One: Die Fähigkeiten der mittlerweile verfügbaren und zunehmend erschwinglichen Datenbrillen sind beeindruckend. Zudem laufen viele AR-Anwendungen heute flüssig und nicht mehr ruckelig und unzuverlässig. Die großen Datenmengen, die sie erzeugen, sind durch Cloud-Lösungen sowie hohe Bandbreiten beherrschbar geworden, die Bereitstellung der Daten gelingt zügiger. Die Anwendungsszenarien werden dadurch immer realistischer, die verbleibenden technischen Hürden scheinen in absehbarer Zeit überwindbar. Im Frühjahr hat Microsoft mit der Präsentation der neuen Datenbrille Hololens ein weiteres echtes Ausrufezeichen gesetzt.
Microsoft, Google, Apple: Die Großen mischen mit
Doch nicht erst seitdem ein Gigant wie Microsoft mit dem Release von Windows 10 verstärkt auf holografisches Computing setzt, tummeln sich die ganz Großen auf der Spielwiese der Möglichkeiten. Google hat 2014 rund 540 Millionen US-Dollar in das Technologieunternehmen Magic Leap investiert, das an AR-Technologien forscht. Der Suchmaschinenriese entwickelt mit Project Tango zudem bereits ein mit Tiefenkamera ausgestattetes Tablet. Sogenannte Depth-Sensing-Techniken, die auf speziellen Tiefensensoren basieren, sind im Hinblick auf die Nutzung von AR-Anwendungen über mobile Geräte von großer Bedeutung. Und wie die Analysten von Piper Jaffray unlängst verlauten ließen, beschäftigt sich Gerüchten zufolge auch Apple mittlerweile intensiv mit der Entwicklung von AR-Wearables, die nicht nur nützlich sind, sondern – im Gegensatz zur mittlerweile wieder eingestellten Google-Datenbrille „Google Glass“ – auch sozial verträglich.
Und während in den Labors fleißig weiter an der Technologie gefeilt wird, finden immer mehr hilfreiche Features den Weg in die Praxis: Das deutsche Unternehmen 3spin hat für die Lufthansa eine Anwendung entwickelt, mit der Kunden ihre potenziellen Reiseziele schon vor der Buchung virtuell erkunden können. Durch das Aufsetzen einer VR-Brille erlebt der Kunde einen beliebigen Ort in Form eines sogenannten vollsphärischen 360-Grad-Videos. Ohnehin sind virtuelle Realitäten im Marketing der Reisebranche längst keine Seltenheit mehr: Auch die Marriott Hotels setzen bei der Vermarktung ihrer Reiseziele auf die Technik. Ebenso schickte British Airways ihre Kunden bei einer Marketing-Tour bereits auf virtuellem Wege in mehrere europäische Städte, um ihnen eine Buchung schmackhaft zu machen.
Neue AR-Szenarien: Verknüpfung von realen & virtuellen Elementen
Der zweite technologische Schritt, der ebenfalls bereits eine rasant wachsende Zahl vielversprechender Einsatzszenarien hervorbringt, liegt in der Zusammenführung der virtuellen mit der realen Welt. Mithilfe der Augmented Reality können Besucher der japanischen und australischen Verkaufsstandorte von Ferrari am Point-of-Sale beispielsweise einen 300.000-Dollar-Wagen auseinandernehmen und in dessen Innenleben eintauchen. Technisches Vehikel ist dabei eine AR-Applikation, die vor Ort auf Tablets bereitgestellt wird. Doch nicht nur als unmittelbare Verkaufsunterstützung erhalten AR-Technologien immer weiter Einzug in die Wertschöpfungskette von Unternehmen. In mehreren deutschen Industriezweigen (z. B. Luftfahrtindustrie oder Automobilfertigung) hilft die Technik bereits heute bei der Wartung und Reparatur von Maschinen und Anlagen, indem mithilfe einer Datenbrille virtuelle Produkt-, Bau- und Schaltpläne direkt über das zu prüfende Teil gelegt werden können.
Im Rahmen der Business-IT geht es bei AR-Experimenten derzeit naturgemäß um das übergeordnete Ziel, das Informationsmanagement im Unternehmen durch die Verknüpfung von physischen und virtuellen Elementen zu optimieren, Prozesse zu beschleunigen und Arbeitsergebnisse zu verbessern. Ob es um die Einblendung von Zusatzinformationen zu physischen Elementen wie Papierdokumenten mithilfe virtueller Datensheets geht oder um standortübergreifende Meetings, die auf die gemeinsame Arbeit an virtuellen Projekten zugeschnitten sind – viele Einsatzszenarien im Geschäftsumfeld sind denkbar.
Wo liegt die Zukunft virtueller Elemente?
Doch welche Technologien haben wirklich das Potenzial, das Informationsmanagement und damit die Geschäftsprozesse im Unternehmen zu revolutionieren? Und wie viel erweitere Realität kann der physische Arbeitsplatz vertragen, ohne die Mitarbeiter zu überfordern? Technisch scheinen sich derzeit nahezu unbegrenzte Möglichkeiten aufzutun. Ebenso werden wir in nicht allzu ferner Zukunft eine Situation erleben, in der AR-Features von Kundenseite im Standard von Business-Lösungen erwartet werden. Eine wichtige Voraussetzung für eine flächendeckende Integration virtueller Elemente in den Arbeitsalltag von Unternehmen wird jedoch – wie wir es auch bei der Nutzung mobiler Geräte erlebt haben – eine hohe Akzeptanz der Technologie im Privatbereich sein.
Nur auf Basis eines permanenten Umgangs mit AR-Features auf Konsumentenseite gelingt auch die verbreitete Umsetzung im Unternehmen. Doch deuten die aktuellen Entwicklungen und die vielen oben genannten Beispiele aus den Bereichen Entertainment, Marketing, Industrie und Handel durchaus darauf hin, dass AR-Technologien auch in der Arbeitswelt in naher Zukunft so selbstverständlich sein werden wie heute Smartphones und Tablets.
„Wir müssen vorbereitet sein …“
Nicht nur Andreas Ahmann, Leiter Forschung & Entwicklung bei der Ceyoniq Technology GmbH, ist vom bevorstehenden Durchbruch der AR-Technologie im DMS-Kontext überzeugt:
Im Rahmen einer Kooperation mit einer Forschungsgruppe um Dr. Thies Pfeiffer vom Exzellenzcluster für Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld erarbeitet das Unternehmen mit wissenschaftlicher Unterstützung Wege des Technologietransfers für AR-Anwendungen.
Herr Ahmann, welches Forschungsziel verfolgt die Zusammenarbeit mit dem CITEC?
Grundsätzlich geht es um die Frage, wie Menschen zukünftig mit Informationen in Geschäftsprozessen umgehen werden. Stellen Sie sich vor, wie sehr das Smartphone in den letzten acht Jahren die Informationsverfügbarkeit beeinflusst hat. Bei heutigen VR- und AR-Fragestellungen geht es nicht mehr um die Verfügbarkeit, die ist nun gegeben, sondern viel mehr um Filterung und Visualisierung von Informationen. Dabei spielt die Nutzung von Sensorik, also von Bewegungssensoren zur Erkennung von Gesten, von GPS-Empfängern oder eines Kompasses zur Positionserkennung, eine wesentliche Rolle.
Welche fachspezifischen Kompetenzen bringt Ceyoniq bei diesem Thema mit?
Wir haben als Lösungsanbieter für Enterprise Content Management einen sehr geschärften Blick für den Umgang mit Informationen, Kommunikation und Geschäftsprozessen in Unternehmen. Die Frage ist, wie wir dieses Wissen nutzen können, um die allseits verfügbaren Informationen so zu filtern, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtigsten, also nützlichsten Informationen zu Tage treten. Das soll immer in Abhängigkeit vom aktuellen Kontext des Anwenders geschehen. Anschließend müssen diese Informationen prominent, beispielsweise im Sichtfeld des Anwenders, visualisiert werden. Es geht also um die Verbindung mehrerer Methoden mit dem Ziel, dem Benutzer die eine Information zu geben, die ihn gerade interessiert. Und zwar so, dass sie auch in der Anzeige nicht stört oder ablenkt.
Welche konkreten AR-Einsatzszenarien streben Sie an?
Es geht um digitale Inhalte als Zusatzinformationen zu physikalischen Objekten. Bei der Arbeit an einem physikalischen Schreibtisch wäre es ein Mehrwert, mithilfe einer Datenbrille weiterführende Informationen beispielsweise zu einem Papierdokument einblenden zu können, vielleicht ein dazugehöriges Video. Ein anderes spannendes Einsatzszenario im Business-Alltag sind persönliche Gespräche: Hier könnten sich Gesprächsteilnehmer etwa die letzte Korrespondenz mit dem Gesprächspartner oder eine Übersicht der bisherigen Termine anzeigen lassen.
Welche Erwartungshaltung existiert bezüglich dieses Themas auf Kundenseite?
Verständlicherweise ist noch keine konkrete Erwartungshaltung da, vergleichbar mit der Situation vor dem Durchbruch mobiler Endgeräte wie Smartphones. Die wirklichen Potenziale werden für viele erst sichtbar, wenn die Praxiserfahrungen zunehmen – zum Beispiel im Zuge der Verbreitung von AR-Brillen im Konsumentenbereich. Anschließend wird sehr schnell eine Erwartungshaltung im Geschäftsumfeld entstehen. Wichtig wird es sein, dann bereits die notwendige Technologie zu beherrschen, um schnell Antworten liefern zu können. Wir müssen vorbereitet sein.
Welche DMS-Anwendungen in Verbindung mit der virtuellen Realität können Nutzer in den Simulationen des CITEC schon heute erleben?
Nutzer können mithilfe einer Virtual-Reality-Brille an einem physischen Arbeitsplatz Dokumente virtuell verwalten. Wir haben Schreibtisch-Simulationen mit einer dokumentenzentrierten Navigationsrecherche umgesetzt. Im AR-Bereich arbeiten wir intensiv an der Visualisierung von Zusatzinformationen im Sichtfeld des Anwenders.
Welchen Beitrag leistet Ceyoniq im Rahmen der Forschungskooperation?
Wir unterstützen das Projekt einerseits durch die Bereitstellung von Hardware und die Förderung studentischer Abschlussarbeiten. Ein weiterer Mehrwert besteht andererseits darin, dass wir Hilfestellungen und fachlichen Input in Bezug auf konkrete Anwendungsszenarien in der Business-IT geben können. Denn der Technologietransfer aus der Theorie in die unternehmerische Praxis kann nur anhand realistischer Problemstellungen gelingen. Auf der inhaltlichen Ebene steuert Ceyoniq der Forschungszusammenarbeit mit der Informationsplattform nscale sowohl die zentrale Informationsquelle als auch die Kontextinformation bei: Welcher Benutzer benötigt welche Information in welchem Geschäftsprozess?
Welche wesentlichen Hürden gilt es beim Technologietransfer aus dem Labor in die Praxis noch zu nehmen?
Im Mittelpunkt steht die Usability: Technologie ist nur dann auch nützlich, wenn sie benutzbar ist und einen Mehrwert bietet. Solange man im Telefonbuch eine Nummer schneller fand als bei Online-Telefonauskunfteien, hat man es über das Telefonbuch gelöst. Heutzutage benutzt kaum noch jemand Telefonbücher. Die Frage ist also, ob, wie und wann wir es schaffen, die Technologie so zu verpacken, dass sie ohne langwierige Einarbeitung bedienbar ist und dem Endanwender nützlich wird. Das wird sicherlich noch eine Weile dauern.
Herr Ahmann, haben Sie vielen Dank für dieses informative und hochspannende Gespräch.
Andreas Ahmann, Bereichsleiter Forschung und Entwicklung, Ceyoniq Technology GmbH. Seit vielen Jahren bietet Ceyoniq mit ihrer Informationsplattform nscale intelligente Lösungen zum Dokumenten- und Enterprise Content Management, zur Archivierung und Optimierung von Geschäftsprozessen (BPM). Andreas Ahmann ist zudem Lehrbeauftragter im Bereich Wirtschaftsinformatik und unterrichtet Linux an der Fachhochschule Bielefeld.
Die fächerübergreifende Forschung des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld wird in vier Bereiche gebündelt: Bewegungsintelligenz, Systeme mit Aufmerksamkeit, Situierte Kommunikation sowie Gedächtnis und Lernen. Die rund 250 Mitglieder kommen aus 31 Forschungsgruppen und fünf Fakultäten der Universität Bielefeld: Biologie, Linguistik und Literaturwissenschaft, Mathematik, Psychologie und Sportwissenschaft sowie aus der Technischen Fakultät. CITEC ist Teil der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.