Der Kunde hat Konjunktur. So brechen Lean Production und intelligente Plattformen klassische Produktionszyklen auf.

    Ein Plädoyer für das Gebot der Stunde.

     

    Interview

    mit

    Christopher Möhle, CEO der Digitalagentur Turbine Kreuzberg

     

     

    Produziert wird in Zukunft nur, was Kunden wirklich kaufen – verschwendet wird nichts. Dieser Satz beschreibt im Wesentlichen die Zielvorgabe zukünftiger Produktionsprozesse. Lean Production und der Wandel in Richtung Plattformökonomie sind dabei die Gebote der Stunde. Der Begriff Lean Production verweist in diesem Zusammenhang auf einen wesentlichen Aspekt dieser Entwicklung: die kundenzentrierte Produktion und Beschaffung von Gütern.

    Die geforderte Form der ‚schlanken‘ Produktion bedeutet, dass produzierende Unternehmen aus etablierten, meist überladenen und entsprechend statischen Prozessstrukturen ausbrechen und dadurch reaktionsschneller agieren können. So geht es zum Beispiel darum, Personal, Material und Maschinen effizient einzusetzen. Auch der bedarfsorientierte Einkauf von Gütern zur Produktion ist damit gemeint.

    Christopher Möhle, CEO der Digitalagentur Turbine Kreuzberg, erklärt im Interview mit DIGITUS, was es mit Lean Production auf sich hat, und wie Lieferanten, Produzenten, Einkäufer und Brands diese Entwicklung für sich nutzen können.

    Herr Möhle, was ist für Sie ein wichtiger Aspekt von Lean Production?

    Die Verschlankung von Produktionsprozessen, das wesentliche Merkmal dieses Konzepts, ist kein reiner Selbstzweck, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen der Kunden. Und diese Bedürfnisse werden in Zeiten von Digitalisierung, sozialen Medien und einer allgemeinen Beschleunigung unseres Lebens immer diverser, volatiler und kurzlebiger – aber auch leichter zu ermitteln.

    Lean Production wird oft in einem Atemzug mit der Plattformökonomie genannt. Was haben die beiden Ansätze miteinander zu tun?

    Wenn es darum geht, Produktion effizienter zu gestalten, sind wir relativ schnell bei der Frage, wie sich Prozesse beschleunigen oder abkürzen lassen. Traditionelle Produktions- und Lieferketten verlaufen linear. Das Konzept der Plattformökonomie ersetzt diesen linearen Prozess durch ein Netz, in dessen Mitte eine Plattform die angeschlossenen Akteure, also Lieferanten und Einkäufer, nicht nur bilateral, sondern auch untereinander verbindet.

    „Eine Beteiligung an Plattformlösungen konkurrierender Unternehmen ist der einzig mögliche Weg, um den eigenen Zugang zum Markt zu sichern.“

    Intelligente Beschaffungsplattformen sind darauf ausgelegt, von Markt-, Anbieter- und Nachfrageseite Daten zu empfangen und sie mit aktuellen Trends und Entwicklungen sowie den Bedürfnissen der Endverbraucher in Echtzeit anzureichern. So wird die Verschlankung der Produktionsprozesse ganzer Branchen möglich. Plattformökonomie ermöglicht also Lean Production.

    Bleiben wir noch kurz bei diesem Punkt. Inwiefern kann sich die Wert-schöpfungskette durch die Implementierung einer Plattform nachhaltig verändern? Gibt es ein konkretes Beispiel aus der Praxis?

    Verknüpft man den Plattformansatz mit KI-Technologie, so ermöglicht das die Vorhersagbarkeit von Produktionsprozessen entlang der Nachfrage, sogenannte Predictive Production. Damit sind intelligente Systeme gemeint, die datenbasiert Ereignisse in der Produktion vorhersagen können, um optimale Lösungen für mögliche zukünftige Probleme zu identifizieren. Oder aber sie durch Echtzeitreaktionen gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Datenbasis wird aus sämtlichen Stationen in der Produktion sowie vor- und nachgelagerten Prozessen gezogen: aus Sensormessungen in Logistik, Lagerhaltung sowie an Produktionsmaschinen oder eben aus der Kundeninteraktion. Werden diese Daten noch mit Einkaufsdaten von Kunden und Markttrends kombiniert, stellt die Fabrik nur noch her, was dem Kundenwunsch entspricht.

    In der Textilindustrie bedeutet die Implementierung des Plattformgedankens beispielsweise, dass ein in Kollektionen gedachter Produktions- und Vertriebszyklus nicht mehr lange praktikabel sein wird. In klassischen Kollektionen hergestellte Mode veraltet immer schneller, teilweise bereits, wenn sie auf den Markt kommt. Künftig werden Daten aus Abverkäufen in lokalen Ladenflächen oder Online-Shops sowie beispielsweise auch die in Modeblogs registrierten Trends und Nachfragen in Plattformen gebündelt. Entscheidend für den nötigen Vorsprung ist, Zugriff auf diese Daten zu haben. Das Prinzip des klassischen Entwurfs einer Kollektion, ersonnen von einem einzelnen Designer, die im nächsten Schritt produziert und dann zur geplanten Saison in die Verkaufsflächen distribuiert wird, ist dann überholt.

    „Ab einem bestimmten Punkt wird es für Marktakteure unausweichlich, sich einen Zugang zum Big Data Pool der Wettbewerber zu erkaufen. Das Eintrittsticket dafür sind stets die eigenen Daten.“

    Wieso sollten Unternehmen ihre Daten für Plattformen von Wettbewerbern zur Verfügung stellen? Welche betriebswirtschaftlichen Vorteile ergeben sich aus solchen Kooperationen?

    Eigene Daten mit dem Wettbewerb zu teilen, klingt auf den ersten Blick wirtschaftlich wenig einleuchtend. Daten auf einer Plattform zu teilen, bietet aber deutliche Vorteile. Zum einen erlaubt die Plattform den Zugang zu Endkunden, die über bisherige Vertriebswege oft nicht mehr zu erreichen sind. Zum anderen wird häufig durch die gesammelte Menge an Ergebnissen aus der Datenanalyse die Customer Experience enorm verbessert.

    Ab einem bestimmten Punkt wird es für Marktakteure unausweichlich, sich einen Zugang zum Big Data Pool der Wettbewerber zu erkaufen. Das Eintrittsticket dafür sind stets die eigenen Daten. Wer in Zeiten der Digitalisierung die eigenen Vertriebswege nicht rechtzeitig infrage gestellt hat, gerät leicht ins Hintertreffen, sodass eine Beteiligung an Plattformlösungen konkurrierender Unternehmen der einzig mögliche Weg ist, um den eigenen Zugang zum Markt zu sichern. In vielen Fällen schließen sich aber auch Wettbewerber bewusst zusammen, um gemeinsame Lösungen zu etablieren, man spricht dann von Coopetition.

    Welche Rolle spielen Kunden im Kontext der Lean Production?

    Kundenzentrierung ist der Dreh- und Angelpunkt der Lean Production. Zwar ist es immer möglich, bestehende Produktionsprozesse auf Effizienz zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Wirklich innovativ ist Lean Production aber erst dann, wenn sie Grundlegendes infrage stellt und das Angebot vom Endkunden her denkt anstatt vom Produkt. Customer Centricity ist im B2C-Bereich als Prinzip lange etabliert. In der Produktion im B2B, wo die Kunden meist andere Unternehmen sind, ist die Entwicklung noch am Anfang. Das produzierende Gewerbe nimmt sie immer stärker ins Visier und antizipiert ihre sich verändernden Bedürfnisse. Wer als B2B-Anbieter aber Lean Production realisiert, ohne dabei auch den Endkunden, also den Konsumenten im Blick zu haben, wird damit langfristig keinen Erfolg haben.

    Sie erklären das klassische „Kollektionsdenken” in der Textilwirtschaft für überholt. Wie sieht denn dann die Zukunft der Textilwirtschaft aus – in einem konkreten Szenario?

    Mit einer Plattform, die Daten in Echtzeit sammelt, sie auswertet und Ergebnisse an Marken, Produzenten, Lieferanten und Verkäufer weiterreicht, werden alle beteiligten Akteure beweglicher und reagieren entsprechend schneller auf sich abzeichnende Trends. Ein Beispiel: Nach dem plötzlichen Tod des ehemaligen Basketballprofis Kobe Bryant bekundeten zahlreiche Menschen – Prominente wie Nicht-Prominente – ihre Anteilnahme mit Outfits in den Farben seines früheren Vereins sowie seiner Trikotnummer. Künftig kann eine steigende Nachfrage bereits aus bestimmten Nachrichten abgeleitet und mit der Produktion von Kleidung in besonders typischen Farben und Prints begonnen werden. Schon wenige Wochen später können Kunden die Modestücke erwerben.

    Kann die anhaltende Branchentransformation auch positive Impulse, zum Beispiel im Hinblick auf mehr Nachhaltigkeit, bringen? Welche Rolle spielen ethische Fragen bei der Transformation?

    Nachhaltigkeit ist ein bedeutender Faktor beim Thema Lean Production. Bislang erleben wir, dass es bei Gewinnen in der Produktion vor allem um die sinkenden Kosten geht – also Kostenreduktion durch größere Effizienz in Produktions- und Verwaltungsprozessen. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Schlanke Produktion beispielsweise durch Automatisierung ermöglicht einen stärker zielgerichteten Einsatz von Ressourcen, wie etwa einen geringeren Verbrauch von Betriebsmitteln, weniger Personalaufwand oder Transporte. Das wiederum kann eine stärker nachhaltigkeitsgetriebene, schonende und zukunftsfeste Produktion bedeuten. Effizienz ist also kein Selbstzweck, sondern schont Ressourcen und stärkt die Nachhaltigkeitsbilanz.

    „Verknüpft man den Plattformansatz mit KI-Technologie, so ermöglicht das die Vorhersagbarkeit von Produktionsprozessen entlang der Nachfrage, sogenannte Predictive Production.“

    Welche Anknüpfungspunkte gibt es in der Lean Production zu Blockchain? Wie lassen sich im Zusammenspiel mit dieser Zukunftstechnologie veraltete Prozesse überholen und optimieren?

    Um Vertrauen zwischen sämtlichen Teilnehmern der Wertschöpfungskette zu gewährleisten, haben sich Hersteller bisher auf sehr enge Lieferantenbeziehungen, unabhängige Qualitätsprüfungen und eine umfangreiche Dokumentation verlassen. Dieses System ist in der Regel sehr aufwendig umzusetzen und daher mit hohen Kosten verbunden – im übertragenen Sinne entsteht also eine Art „Trust Tax”.

    Im Kern bedeutet Blockchain-Technologie mehr Vertrauen. Unternehmen können damit innerhalb komplexer Lieferketten Daten schnell, präzise und sicher austauschen. Sie kann eine unveränderliche, permanente digitale Aufzeichnung von Materialien, Teilen und Produkten liefern, wodurch die End-to-End-Sichtbarkeit gefördert und eine einzige „Quelle der Wahrheit“ für alle Beteiligten bereitgestellt wird. Diese Vorteile sind vor allem dann wertvoll, wenn die Lieferkette mehrere Teilnehmer mit unabhängigen IT-Systemen umfasst, wenn es an Vertrauen zwischen den Teilnehmern mangelt oder häufig neue Teilnehmer hinzukommen.

    Setzt diese Entwicklung nicht auch Impulse in anderen Bereichen? Wie lässt sich das Lean-Prinzip beispielsweise in der Baubranche umsetzen?

    In der Baubranche rückt Just-in-Time Production immer stärker in den Fokus. Bauprojekte erfordern ein gutes Zusammenspiel einer Vielzahl an Gewerken. Zugleich ist die Anzahl der beteiligten Akteure mit individuellen Einzelinteressen recht groß. Hier ist denkbar – und das wird in der Praxis auch schon durchgeführt – die Prinzipien der Just-in-Time Production auf das eigene Geschäft übertragen, um den Bau – insbesondere im Hinblick auf den Zeitaufwand – zu verbessern.

    Zum Kernelement wird dabei eine getaktete Terminplanung mit zeitlich harmonisierten Gewerk- bzw. Arbeitsschritten. Es wird eine Taktzeit – der sogenannte „Herzschlag” – für die einzelnen Gewerke festgelegt, wobei in jedem Bauabschnitt zur gleichen Zeit nur ein Gewerk arbeitet. Der Einsatz der Gewerke wird in einem wöchentlichen Rhythmus zentral und gemeinschaftlich geplant und verbindlich festgelegt – unter Beteiligung sämtlicher Akteure, wie etwa Bauleiter, Poliere und Obermonteure des Generalunternehmers und seiner Nachunternehmer sowie den Planern. Grundlage ist immer der jeweils aktuelle Stand.

    Wie sehen die ersten Ergebnisse dieses Vorgehens aus?

    Das agile Vorgehen verbessert den Projektfluss, weil von vornherein immer nur diejenigen Tätigkeiten geplant und abgerufen werden, die in der folgenden Woche auch umgesetzt werden können. Zusätzlich gibt es aufgrund der Gruppendynamik nicht zu unterschätzende psychologische und motivierende Effekte. Denn Terminzusagen werden von denjenigen Personen gemacht, die direkt dafür verantwortlich sind oder später auch die Arbeit erledigen. Die Fehlerquote sinkt dadurch ebenfalls.

    Im einem ersten nach diesem Ansatz realisierten Bauprojekt von Hochtief konnte beispielsweise das Bauleitungsteam einen Bauzeitgewinn von 20 Prozent erzielen. Die Gesamtmangelquote konnte auf durchschnittlich drei Prozent pro Wohneinheit begrenzt werden, wobei zehn Einheiten mangelfrei übergeben wurden.

    Das klingt vielversprechend. Herr Möhle, wir danken Ihnen sehr für Ihre detaillierten Informationen über die Lean-Prinzipien und wie sehr sie die Produktions- und Projektabläufe in einzelnen Branchen verändern werden.

    www.turbinekreuzberg.com

    Turbine Kreuzberg GmbH ist eine Digitalagentur mit hoher Technologie-Expertise. Als Beratungs- und Umsetzungspartner entwickelt das Unternehmen zukunftsorientierte Produktplattformen, Marktplätze sowie individuelle Anwendungen und optimiert digitale Plattformen. Mit Strategie, Technologie und Design hilft und begleitet Turbine Kreuzberg Unternehmen und Corporate Startups dabei, die Chancen des digitalen Wandels erfolgreich zu nutzen. Das agil arbeitende Unternehmen beschäftigt mehr als 90 Mitarbeiter an den Standorten Berlin, Stuttgart, Leipzig und Faro (Portugal).