Die als ‚next big thing‘ eingestufte Digitalisierungsoffensive vieler Unternehmen gerät durch die Corona-Krise ins Wanken. Fehlen die Budgets, müssen auch wichtige Zukunftsprojekte in die Warteschleife. Innovativ handeln – ganz grundsätzlich – Organisationen mit der Kern-Fähigkeit zur Refokussierung: Viele Unternehmen haben hinter vorgehaltener Hand längst erkannt, dass das eine oder andere Projekt hoffnungslos in Schieflage geraten ist und im Sinne wirtschaftlicher Vernunft eingestellt gehört – wenn auch nur vorübergehend. Dieses ‚Loslassen‘ ist jedoch alles andere als einfach. Zum einen fehlen Vergleichs- und Erfahrungswerte, zum anderen steht das Aktivieren von Verlusten dem eigenen Erfolgswillen im Weg: Je länger Projekte laufen, desto höher die potenziellen ‚sunk costs‘ und umso schwieriger für Entscheider und Projektleiter, das Vorhaben zu beenden. Hinzukommt, dass die Abgabe von Personalstärke – und von Macht – naturgemäß Widerstände erzeugt. Freiwillig streicht sich nun mal niemand gern aus einer guten Stellung. Wie kann es also in diesem Spannungsfeld gelingen, die richtigen Vorhaben zu identifizieren und die anderen zu konservieren?
Mico Pütz, Geschäftsführer bei Young Digitals Consulting GmbH
Digitalisierung ist das betriebswirtschaftliche Thema der letzten Jahre. Die COVID-Pandemie − als das aktuelle global-gesellschaftliche Thema − hat ihre Wichtigkeit und Dringlichkeit unterstrichen. Und gleichzeitig die Rahmenbedingungen erheblich erschwert. Massiv haben Organisationen in digitale Geschäftsmodell-Innovationen bzw. in Innovationsfähigkeit investiert. Man hat sich neue Vehikel aufgebaut wie Inkubatoren, Akzeleratoren, Innovationscenter, sie mit kraftvollen Motoren und vollen Tanks ausgestattet und hat mit einer Armada an Projekten mächtig aufs Gas getreten. Nachvollziehbar ist das allemal, denn in heutigen volatilen, unsicheren und komplexen VUCA-Umgebungen wird Innovationsfähigkeit zum strategischen Wettbewerbsvorteil.
Ohne Bremsen gestartet
Allein Bremsen und Lenkung wurden oft vergessen. Mit fatalen Folgen: Einmal losgeschickt, haben sich viele, längst totgesagte Projekte als ‚Zombies‘ überlebt. Schleicht nun eine ganze Reihe solcher leblosen Projekte mit, verschlingen sie genau die kritischen Ressourcen, die den anderen möglicherweise zum Erfolg fehlen. Die gesamte Innovationsleistung leidet dramatisch. Umso wichtiger ist es, hier mit Sinn und Augenmaß zu refokussieren: also objektiviert zu überprüfen, welche Annahmen dem Vorhaben zugrunde liegen und lagen. Und es gilt anhand von Experimenten und Messwerten eine konsekutive Entscheidung zur Beendigung, dem Pivoting oder der Fortführung von Ideen zu treffen.
Projekte frühzeitig stoppen oder ändern (pivoten) zu können ist generell Voraussetzung von Innovationsfähigkeit, komplementär zum Einfach-mal-Machen. Grundsätzlich gesprochen, besteht die Herausforderung an die Organisation darin, immer wieder Geschäftsideen in Hypothesen zu zerlegen und in der Reihenfolge ihrer Tragfähigkeit mit effektiven Experimenten zu validieren. In zunächst kurzen und dann immer länger getakteten Phasen stehen Aufwand und Risikoreduktion stets in angemessenem Verhältnis − anfangs prototypisch per Problem-Solution- sowie Product-Market-Fit. Später wird dann breit investiert in eine allgemeine Markt- und Betriebsfähigkeit. Projekte werden erst dann zu Zombies, wenn sie zu lange laufen und hohe Sunk Costs ohne Erfolgsnachweise akkumuliert haben, wenn die Fallhöhe zu groß geworden ist und persönlicher Erfolg und Macht an ihren Fortbestand geknüpft sind.
Sein oder nicht sein?
So knapp die allgemeinen Anforderungen an das Management digitaler Innovationen hier geschildert sind, so anspruchsvoll sind sie in der Umsetzung. Die COVID-Situation gibt dem Ganzen einen besonderen Twist: Wenngleich die Notwendigkeit zur Digitalisierung mittelfristig offensichtlich ist, stößt jetzt akuter wirtschaftlicher Druck auf die kurzfristige Möglichkeit schneller Einsparungen. Laufenden Kosten stehen naturgemäß noch keine Einnahmen entgegen und so droht den Erneuerungsprojekten die plötzliche, weil GuV-wirksame Kürzung wichtiger Ressourcen. Liquiditätsentzug, Kurzarbeit, Abbau von externen oder sogar internen Leistungs- und Wissensträgern, Beendigung von Lizenzen usw. können einem Vorhaben entscheidend schaden.
Mit Blick auf die Zombies klingt das soweit gar nicht schlecht. Allerdings werden genau diese sich im Verteilungskampf zu wehren wissen mit kaum überprüfbaren Rentabilitäts-Argumenten und politischer Aktivität. Irreführende Messungen, die zur Beurteilung herangezogen werden, erschweren die Selektion zusätzlich: Die Umgebungsbedingungen haben sich in der Pandemie in Form veränderter Nutzer-, Nutzungs- und Markt-Gegebenheiten verschoben. Häufig ist nicht absehbar, welche dieser Verschiebungen dauerhafter Natur sind.
Wenn Unternehmen jetzt unter Druck zu kurzsichtig agieren und die falschen Projekte kürzen oder gewähren lassen, berauben sie sich zukünftiger Wettbewerbs-Kraft. Kürzungen könnten außerdem als willkürlich und aktionistisch empfunden werden, wodurch wichtiges Vertrauen verloren geht und sogar der Verlust von Talenten droht.
Refokussieren!
Das Refokussieren erfolgt durch ein kurzfristiges Audit, eher informell gehalten, nach klassischem Projektmanagement-Schema und auf individuelle Bedürfnisse angepasst. Elemente daraus sollten Organisationen später dauerhaft in die agile Arbeit übernehmen.
In der Initialisierungsphase wird der orientierende Rahmen gesetzt: Exakt an dieser Stelle liegen bereits 50 Prozent des Erfolgs. Einsparpotenzial und Audit-Aufwand als Ziele, ein Mini-Regelwerk aus Transparenz und weiteren Leit-Prinzipien, eine Philosophie, die das Vorgehen als reflektierten Lernprozess versteht, Tool und Vorgehen sowie Rollen bzw. Verantwortlichkeiten werden bestimmt. Wichtig ist, den Erfahrungen der Young Digitals Consultants folgend, dass eine heterogene Stakeholder-Gruppe die Entscheidungen trifft und Kriterien zur Beurteilung vereinbart werden, wie zum Beispiel:
- Strategischer Fit: Wie passt das Projekt weiter in die (neue) Unternehmensstrategie?
- Risk-Ratio: Ist das Verhältnis zwischen bisheriger Investitionssumme und erzielter Risikoreduktion angemessen? Welche Assets wurden geschaffen (Technologie, Daten …), welche gesicherten Erkenntnisse liegen dokumentiert vor? Was ist als nächstes geplant?
- Teamstärke: Welches fachliche und methodische Know-how ist vorhanden, wie sind Teamgeist und kultureller Fit, Motivation, Stimmung, Zuversicht?
- Situative Angemessenheit: Welche Verzerrungen übt die Marktverschiebung auf die Experimentier-Arbeit aus? Wie aussagekräftig sind erhobene Daten noch?
- Kostenstruktur: Welche laufenden Kosten sind variabel und lassen sich kurzfristig reduzieren, welche fix oder sprungfix? Welche Ressourcen lassen sich umverteilen? Welche Kosten entstehen für Beendigung, Pausierung, Änderung?
Nach Sammlung und Aggregation der Daten steht für die Entscheider die komplexe Bewertungsaufgabe an: etwa im Tagesworkshop mit dem Audit-Team, Projektvertretern, unter externer Moderation sowie nach akribischer Planung und Vorbereitung. Sie betrachten alle Vorhaben zunächst hinsichtlich nächster Meilensteine und neuer Investitionen. Dann sortieren sie diese Vorhaben mittels kollaborativer Priorisierungstechniken, bis über und unter dem (Budget-)Strich eine Reihenfolge steht. Zu jedem Projekt bestimmt das Team Aktions-Maßnahmen: über dem Strich laufen diese wie vorgesehen weiter oder werden durch Ressourcen Reallokation be- oder entschleunigt. Unter dem Strich werden sie „auf Wiedervorlage“ pausiert bzw. konserviert bzw. beendet. Die laufenden Kosten der Projekte über dem Strich summieren sich auf die Zielgröße; die einmaligen Kosten zur Pausierung oder Beendigung der nicht so gut abschneidenden Projekte sollten einen relativ kleinen Teil der angestrebten Einsparungen verbrauchen.
Auf dem Weg ins Ziel 
In der Lage sein, einen Fokus zu setzen, gilt gemeinhin als Erfolgsschlüssel. Strategische Schwerpunkte und Nutzer-zentrierung steigern auch die Digitalisierungsleistung jedes Unternehmens: Nützlichere Produkte und effizientere Prozesse schaffen nachhaltige Wettbewerbsvorteile. Häufiger den tatsächlichen Wert zu validieren, Vorhaben früher zu beenden und aussichtsreichere zu beginnen, bedeutet auch, Daten und Wissen schneller zu generieren bzw. ein tieferes Verständnis zu erlangen für Nutzer, Markt und Wettbewerb. Eine höhere Trefferquote ist zwangsläufig damit verbunden.
Unternehmern, Geschäftsführern und Managern vermag Refokussierung kurzfristig zu mehr Widerstandsfähigkeit verhelfen, wenn sie erhebliche Einsparungen flexibel realisieren können. Mittelfristig steigt die Motivation der Mitarbeiter stark, wenn sich die Organisation von toxischen Zombie-Projekten befreien kann: Unternehmen, in denen eine spürbare Erfolgsorientierung herrscht, die Digitalisierung nicht als Selbstzweck betreiben und die auf nachvollziehbare Weise nur aussichtsreiche Projekte weiterverfolgen, ziehen leistungsorientierte Talente an. Erarbeiten sie außerdem vorab gemeinsam Klarheit zu Zielen, Erwartungen und Vorgehen und vermitteln Mitarbeitern eine Perspektive über das Projekt hinaus, entsteht ein psychologisch sicherer Raum, innerhalb dessen konstruktiv-kritisch agiert werden kann.
Stimmen diese Voraussetzungen, kann gesunder äußerer Druck eine produktive Spannung erhöhen, mittels derer Teams leichter in die Erfolgszone kommen und hohe Arbeitszufriedenheit erreichen. Sie werden bald mutiger und übernehmen Verantwortung: Das Wissen um die Fähigkeit des Systems, die eigenen Aktivitäten routiniert zu beenden (und zum eigenen Schutz wohlwollend das Handtuch zu werfen), erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich in neue Herausforderungen zu stürzen. Betroffene Projektleiter und Führungskräfte können sich zudem endlich legitim von Altlasten befreien. Mit der Risk-Ratio wird nach einem Maßstab beurteilt, der viel beeinflussbarer ist, wenn es um Angemessenheit von weiteren Ausgaben zu neuen Erkenntnissen geht, statt nach dem Erfolg einer hochdotierten Gesamt-Wette. Andererseits fällt es viel leichter, Projekte zu stoppen, wenn die gesamte bisherige Investition nicht als Sunk Costs in einer persönlichen Bilanz festgehalten wird.
Fazit
Durch plötzliche wirtschaftliche Zwänge und kurzfristige Verschiebung der Marktbedingungen erzeugt COVID Handlungsbedarf zur Überprüfung des Digitalisierungs-Portfolios. Es droht jedoch erhebliche Gefahr für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, wenn in blinder Not die falschen Projekte auf Eis gelegt werden. Zugleich bietet das COVID-Unwetter die unverhoffte Chance eines Boxenstopps, bei dem systemrelevante Teile eines Innovationsmanagement-Systems noch eingebaut, Zombies gekillt und aussichtsreiche Projekte gestärkt werden können. Durch den Entscheidungsdschungel, welches Projekt zu welcher Spezies zählt, führt am besten ein in diesen Themen erfahrenes Beratungshaus. Oft ist der Blick von außen neutraler und nicht von innergeschäftlichen Machtgefügen eingefärbt. Eine externe Begleitung ist darum sehr zu empfehlen, die nicht nur fachlich, technologisch und methodisch breit aufgestellt ist. Auch ist von ihr wie von beteiligten Managern Empathie und soziales Fingerspitzengefühl gefragt, gewahr des hohen Einflusses der Unternehmenskultur auf den Digitalisierungserfolg.
Wenngleich die Zeit der Pandemie nicht geeignet ist für explizite Kultur-Veränderungsmaßnahmen, für implizite ist sie es durchaus: Ein Refokussierungs-Projekt bietet Managern die hervorragende Gelegenheit, einen (selbst-)kritischen, zugleich nachgiebigen Umgang mit Fehlern sowie moderne Kollaborations-Werte vorzuleben und de facto Impulse zu setzen auf dem Weg in eine selbstverantwortliche, offene und lernende Kultur.
Mit ihrem über die Jahre aufgebauten internationalen Netzwerk bewähren sich die Young Digitals als unentbehrlicher und beweglicher Partner für Innovationsvorhaben. Ihre Kernkompetenzen und praxisbewährten Methoden schaffen branchenübergreifend Mehrwerte für mittlere und große Organisationen. Typische Kunden der Young Digitals Consulting GmbH sind sowohl Industrieunternehmen und Kreditinstitute als auch Kommunen und Health-Organisationen.