Informationsarchitektur – junge Disziplin mit großer Zukunft

Autorin – Prof. Sissi Closs, Geschäftsführerin der C-Topic Consulting GmbH und Professorin für Informations- und Medienmanagement an der Hochschule Karlsruhe

Wie kann aus Bergen von Daten und Informationen ein vernünftiges, nutzertaugliches Informationsprodukt entstehen? Die Frage bewegt die Menschen seit langem, die Antwort aber wird immer schwieriger in Anbetracht der uferlos wachsenden Daten- und Informationsmengen in der digitalen Welt.

In seinem berühmten Buch „Information Anxiety“ hat Richard Saul Wurman schon 1989 die Angst vor der Informationsüberflutung (information overload) treffend beschrieben [2]:
“There is a tsunami of data that is crashing onto the beaches of the civilized world. This is a tidal wave of unrelated, growing data formed in bits and bytes, coming in an unorganized, uncontrolled, incoherent cacophony of foam … we see graphic designers and government officials, all getting their shoes wet and slowly submerging in the dense trough of stuff … they walk stupidly into the water, smiling—a false smile of confidence and control. The tsunami is a wall of data—data produced at a greater and greater speed … in amounts that double, it seems, with each sunset.”

Um diesem bedrohlichen Datenchaos etwas entgegenzusetzen, ist eine Disziplin entstanden, die sich Informationsarchitektur (information architecture) nennt, eine Bezeichnung, die ebenfalls Richard Saul Wurman kreiert und erstmalig 1976 auf einer Konferenz des American Institute of Architecture verwendet hat.

Informationsarchitekten haben, bezogen auf den Informationsbereich, ähnliche Aufgaben wie Architekten, die Gebäude konzipieren. Ebenso wie Bauwerke benötigen Informationsangebote Planung und Konzeption, um die Anforderungen passend zur Umgebung zu ermitteln und eine Architektur zu finden, die sich ins Gesamtsystem fügt und bestmöglich ihren Zweck erfüllt. Informationsarchitekten sorgen dafür, dass zum einen auf der Nutzungsseite die Informationsangebote ihr Ziel erreichen und zum anderen auf der Erstellungsseite die Quellen steuerbar und zukunftstauglich bleiben.

Informationsarchitektur befasst sich mit den grundlegenden Fragen der Informationserstellung, -darbietung und -nutzung in der heutigen Zeit, in der wir mit immer größeren digitalen Datenmengen umgehen müssen und bisweilen einen Teil unseres Alltags in virtuellen Räumen der sozialen Netze wie LinkedIn, XING, Facebook oder Twitter verbringen.

Passende Modelle für eine gelungene Architektur

Informationsarchitektur hat viele Facetten und Berührungspunkte, insbesondere mit Bereichen wie Gestaltung, Usability, Psychologie, Architektur und Programmierung. Der Kern aber ist ein passendes Informationsmodell.
Wozu brauchen wir Modelle?
Modelle helfen uns, unsere Konzepte darzustellen und mit anderen zu kommunizieren. In der Papierwelt haben sich reichlich Modelle für unterschiedliche Dokumentarten über die Jahrhunderte etabliert, die wir heute ganz selbstverständlich anwenden. Nehmen wir zum Beispiel den Brief. Ohne Mühe können wir die erforderlichen Bausteine für einen Brief nennen und anordnen, und wenn wir einen Brief erhalten, können wir sofort feststellen, ob er uns betrifft, und wer der Absender ist. Das liegt an dem vertrauten Modell.

Bild 1: Brief-Modell

Das Modell unterstützt die Inhaltserstellung und -organisation und erleichtert den Zugang zur Information für die Nutzung. Je bekannter und etablierter ein Modell ist, desto effizienter und kostensparender werden die Prozesse auf Erstellungs- und auf Nutzungsseite.
Neue Modelle für die digitale Informationswelt
Die aus der Papierwelt bekannten Modelle zur Dokumenterstellung reichen heute nicht aus, weil die digitalen Möglichkeiten wie Automatisierung, Dynamik und Interaktivität in den Modellen für die Papierwelt nicht berücksichtigt sind. Informationsarchitekten, die verantwortlich sind für die Modellierung, müssen daher neue Modelle mit geeigneten Strukturierungs- und Organisationsmustern finden, Zugänge und Navigationspfade definieren und Vorschläge für die Umsetzung und Darstellung entwickeln. Geeignete Visualisierungen machen ein Informationsmodell für Andere sichtbar und nachvollziehbar.

Bild 2: Beispiel für die Visualisierung eines Informationsmodells

Wie gehen Informationsarchitekten bei der Modellbildung vor?
Informationsarchitekten führen sorgfältige Analysen durch, um den Informationsbedarf, die vorhandenen Informationen, die technischen Möglichkeiten sowie die Anforderungen und Gegebenheiten zu ermitteln. Basierend auf den Analyseergebnissen entwerfen sie Strukturierungsvorschläge. Für digitale Informationsangebote hat sich die topic-orientierte Strukturierung als Basis-Strukturierungstechnik etabliert. Danach werden Inhalte in Bausteine, genannt Topics, zerlegt. Aus einem Pool von Topics können dann flexibel nach dem Baukastenprinzip Informationsangebote zusammengestellt werden.

Dieses Strukturierungsprinzip liegt auch dem Brief-Modell zugrunde. Die Bausteine bzw. Topics für einen Brief lassen sich flexibel kombinieren und ergeben so unterschiedliche Briefe, wie beispielsweise den Geschäftsbrief und den privaten Brief.

Bild 3: Brief-Bausteine – kombiniert als Geschäftsbrief und privater Brief

Mit der Einteilung in Topics alleine ist es allerdings noch nicht getan. Um zu praktikablen Informationsmodellen zu gelangen, werden die Topics in unterschiedliche Topic-Klassen eingeteilt. Von den konkreten Inhalten wird abstrahiert, um die wesentlichen Eigenschaften an repräsentativen Typen einfach und klar darstellen zu können. Für Briefe sind beispielsweise der Absender- und der Adress-Baustein wichtige Bausteintypen, die durch ihren Inhalt und ihre Position im Brief klar charakterisiert sind. In Bild 2 und 3 sind die unterschiedlichen Bausteintypen durch verschiedene Farben gekennzeichnet.

Informationsmodellierung heißt also, geeignete Klassen für Topics, ihre Beziehungen und ihren Zusammenbau finden. Zur Klassifizierung eignen sich neben den aus der Dokumentation bekannten Methoden wie Information Mapping® und Funktionsdesign® moderne didaktische Methoden sehr gut, da sie den Kontext und Kenntnisstand der Nutzer bei der Inhaltsklassifizierung berücksichtigen.
Modellentwicklung mit der Klassenkonzept-Technik
Mit der Klassenkonzept-Technik und geeigneten Klassifizierungsmethoden können die passenden Klassen für ein Informationsmodell iterativ und systematisch entwickelt sowie bei Bedarf flexibel angepasst werden [1].

Bild 4: Mit der Klassenkonzept-Technik entwickeltes Klassenkonzept

Bild 4 zeigt, wie ein mit der Klassenkonzept-Technik entwickeltes Klassenkonzept kompakt und anschaulich dargestellt werden kann. In der Tabelle sind die charakteristischen Eigenschaften der definierten Topic-Klassen zusammengestellt. Unterschiedliche Farben kennzeichnen die verschiedenen Topic-Klassen. Für jede Topic-Klasse wird der innere Aufbau so weit erforderlich festgelegt und schließlich gibt es eine Vorgabe, wie unterschiedliche Topic-Typen zu einem kompletten Informationsangebot kombiniert werden können.

Topic-Struktur in einer praktischen Anwendung

Folgendes Beispiel zeigt die Informationsmodellierung an einem anschaulichen Beispiel, der Beschreibung der Memory-Funktion im Auto. Die Memory-Funktion speichert Einstellungen für Sitz- und Spiegelpositionen, so dass sie auf Tastendruck wieder abgerufen werden können und nicht einzeln eingestellt werden müssen. Was die Zielgruppe betrifft, ist mit sehr unterschiedlichen Kompetenzprofilen zu rechnen. Das Spektrum reicht von Personen, die die Memory-Funktion bereits sehr gut kennen, bis zu Personen, die sie zum ersten Mal in einem Auto vorfinden.

Daher macht es Sinn, die Inhalte in der Quelle entsprechend dem zu erwartenden Vorwissen zu modularisieren, um sie dann in einer digitalen Bedienungsanleitung abhängig vom Nutzerprofil ganz nach Bedarf anbieten zu können.

Bild 5: Modularisierung nach Kompetenzprofilen

Die in Bild 5 rot umrandete detaillierte Anleitung zur Bedienung der Memory-Funktion ist ein separates Topic und wird nur bei Bedarf eingeblendet, so dass Personen, die die Bedienung schon kennen, nicht mehr mit diesem Inhalt belastet werden.

Informationsmodellierung – ein agiler Prozess

Die Entwicklung eines passenden Informationsmodells hängt von vielen Faktoren ab, die teilweise häufigen und schnellen Änderungen unterliegen wie beispielsweise die technischen Umsetzungsmöglichkeiten. Daher muss das Modell so konzipiert sein, dass es kontinuierlich optimiert und angepasst werden kann. Ein agiler, iterativer Ansatz ist am besten geeignet, in Stufen zu einem passenden Modell zu gelangen und dieses in jedem Entwicklungsstand direkt umzusetzen. Die oben beschriebenen Aufgaben der Informationsmodellierung fallen bei der Entwicklung und Pflege einer Informationsarchitektur zyklisch immer wieder an, wie Bild 6 zeigt.

Bild 6: Agiler Entwicklungsprozess der Informationsmodellierung

Der formale Rahmen des Informationsmodells unterstützt die agile Vorgehensweise. Er zeigt, welche Stellen im Modell noch unvollständig sind oder geändert wurden. Auch mit lückenhaften Modellen kann die Umsetzung schon starten und bei Änderungen im Modell sind die Anpassungen in der Umsetzung systematisch und mit vertretbarem Aufwand durchführbar, da zu jedem Zeitpunkt klar ersichtlich ist, welche Inhalte überarbeitet, ergänzt oder entfernt werden müssen, ohne dass der gesamte Bestand durchforstet werden muss.

Fazit

Informationsarchitektur ist eine junge Disziplin, die in der digitalen Welt einen hohen Stellenwert hat. Von einer guten Informationsarchitektur profitiert die Erstellungsseite ebenso wie die Nutzer.

Für die Erstellungsseite reduziert sich mit der Klassenbildung die Größenordnung für die Konzeption von Topics und Beziehungen auf ein beherrschbares Maß. Des Weiteren führen Systematisierung und Standardisierung zu höherer Produktivität, Automatisierbarkeit, nachweisbarer Qualität und Stabilität.

Klassifizierung und Systematisierung führen auch auf der Nutzungsseite zu besserer Orientierung und höherer Effizienz. Benötigte Informationen werden schneller gefunden, wenn Teile, die nicht interessieren, gezielt weggeblendet sind. Wenn beispielsweise ausführliche Informationen für Einsteiger über einen Link gezielt abrufbare, eigenständige Topics sind, können Einsteiger die Details abrufen, und Nutzer, die die Kenntnisse schon mitbringen, werden damit nicht belastet.

Literaturhinweise
[1] Closs, S.: Single Source Publishing – Modularer Content für EPUB & Co., entwickler.press, Frankfurt, 2011
[2] Wurman, R. S.: Information Anxiety, New York, Doubleday, 1989

http://ctopic.de/

Prof. Sissi Closs, Geschäftsführerin der C-Topic Consulting GmbH und Professorin für Informations- und Medienmanagement an der Hochschule Karlsruhe. C-Topic Consulting ist ein Beratungsunternehmen im Bereich Technische Kommunikation und Wissensmanagement. Das Unternehmen berät in allen Dokumentationsfragen, konzipiert innovative und zukunftstaugliche Informationsarchitekturen und unterstützt bei der Implementierung. Zum Serviceangebot gehören auch Schulungen sowie die individuelle Begleitung bei der Einführung neuer Dokumentationsprozesse.