Claudia Baumer, Marketing Communication Manager
und
Dr. Achim Steinacker, Presales Manager, beide bei der intelligent views gmbh
Rückverfolgbarkeit ‒ der Begriff klingt nicht unbedingt wie der ultimative Trend im Zuge von Social Software, Big Data, Industrie 4.0 und Co. Doch das Thema unterzieht sich einer nachhaltigen Veränderung: Globalisierung und schnelle Datenströme sorgen dafür, dass Informationen transparenter gehandelt werden können und von Unternehmen wie auch Gesellschaft eingefordert werden. Dabei werden nicht Informationen über Unternehmen fokussiert, sondern Informationen über Produkte – und zwar über alle Produkte, die uns im ganz normalen Leben begegnen.
Ursächlicher Startpunkt waren die ersten Lebensmittelkrisen der 90er Jahre; Stichpunkte BSE. Dass sich der „Rinderwahn“ als Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen niederschlagen kann, schuf das erste Mal gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass man wissen wollte, woher Lebensmittel kommen. Die Aufmerksamkeit für dieses Thema hat sich seitdem eher verstärkt und findet ihre Auswirkung beispielsweise darin, dass Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln heute einer der Eckpfeiler der EU-Politik im Bereich Lebensmittelsicherheit bildet. Aber auch in anderen Branchen wird dem Thema Rechnung getragen: RFID-Chips sorgen in der industriellen Fertigung dafür dass alle Produktbestandeile in der Stahlproduktion bei Gießereien nachverfolgt werden können, im Automotivsektor können über auslesbare Codes Karosserieteile eindeutig einem bestimmten Fahrzeug zugeordnet werden. Spezifische Audit-Verfahren wiederum werden für die Prüfung von Prozessen eingesetzt, um die verschiedenen Verfahren, die Rückverfolgbarkeit garantieren sollen, zu sichern und zu optimieren.
Ergänzt werden diese Ansätze zur Umsetzung der Rückverfolgbarkeit durch gesetzliche Bestimmungen, Leitlinien oder auch Prüfverfahren, die für Produktsicherheit sorgen sollen. Die meisten der den Autoren bekannten Ansätze kümmern sich jedoch immer nur um „einen Strang“ der Rückverfolgbarkeit (z.B. die Rückverfolgbarkeit von Produkten bis auf Chargenebene), nicht aber um die Verknüpfung mit Stammdaten und gesetzlichen Bestimmungen.
Rückverfolgbarkeit ist gleich Sicherheit
Die gesellschaftliche Relevanz des Themas wird sichtbar, wenn man die Aktivitäten von Verbraucherschutzzentralen, aber auch Organisationen wie Foodwach, Stiftung Warentest oder den Deutschen Konsumentenbund betrachtet. Ihnen geht es vom „Bündnis gegen Pseudomedizin und Quacksalberei zum Schaden von Kindern“ [1] über Produktwarnungen und Test immer darum, Verbraucher zu informieren und zu warnen. Hier ist vorab die Vorsorge der Hersteller gefragt. Darüber hinaus ist der große wirtschaftliche Schaden bei entdeckten Produktmängeln, beispielsweise von Rückrufaktionen, leicht zu beziffern. So berichtete der Spiegel, dass Toyota mit einem Gesamtschaden von mehr als einer Milliarde Euro für die jüngste Rückrufaktion rechnet. Eine große Belastung, auch für den Aktienkurs des Konzerns [2].
Zu Fehlschlägen in der Vergangenheit kommen Anforderungen der Zukunft: Produkte werden immer persönlicher, immer spezifischer auf den Verbraucher angepasst. Die Rückverfolgbarkeit hier gewährleisten zu können, wird eine der größten Herausforderungen für produzierende Unternehmen werden. So hat beispielsweise nur ein lückenloser Herkunftsnachweis aller in der Schokolade verwendeten Inhaltsstoffe (auch von zuliefernden Partnerunternehmen!) den Hersteller der Ritter Sport „Voll-Nuss-Schokolade“ vor den nachweislich falschen Anschuldigungen der Stiftung Warentest retten können [3].
Sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher bedeutet Rückverfolgbarkeit demnach Sicherheit: Sicherheit, ungefährliche Produkte herzustellen bzw. zu verwenden, Sicherheit, Gesetze und Regelungen einzuhalten bzw. diese gewährleistet zu sehen, Sicherheit, gute Produkte herzustellen bzw. gute Produkte zu kaufen.
Im Prinzip sollte sich jedes produzierende Unternehmen dieses Themas annehmen. Darüber hinaus trägt die zunehmende Transparenz innerhalb der Informationsgesellschaft dazu bei, dass die Nachfrage solcher Informationen zunehmend den Gesetzgeber fordert, der bereits schon jetzt dabei ist, diese Anforderungen in entsprechende Gesetzgebungen zu gießen.
Ziel: Transparenz des Produktionsprozesses
Die Fähigkeit, die eingesetzten Materialien und Substanzen eines Produktes lückenlos zurückverfolgen zu können und zu jedem Zeitpunkt im Produktionsprozess die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben nachweisen zu können, erfordert einen Zugriff auf eine Vielzahl von Produktions- und Unternehmensdaten. Häufig liegt ein großer Teil der benötigten Daten bereits in unterschiedlichen Systemen vor, wie in Datenbanken, Dokumenten in File-Shares oder Excel-Listen. Diese Daten werden dabei in diesen Systemen meist siloartig gehalten: die Produktdaten und Datenblätter für die Produktion, Tests und Prüfberichte befinden sich beispielsweise im ERP-System, die Produktdatenblätter für den Endverbraucher liegen in einer Marketing-Datenbank, Richtlinien für Maximalmengen bzw. Grenzwerte von Inhaltsstoffen im File-System der Abteilung Qualitätssicherung, die Stammdaten der Händler und Zulieferer wiederum stehen z.B. im SAP-System usw.
Darüber hinaus führen internationale Wertschöpfungsketten zu einer noch größeren Vielfalt an Daten und Sprachen. Internationaler Ein-und Verkauf von Produkten heißt auch, internationale Gesetze und Vorschriften zu beachten, internationalen Herstellern die jeweils relevanten Informationen zu liefern und beim weltweiten Vertrieb wechselnde Bestimmungen zu beachten. Dies hat bisher zur Folge, dass die Beantwortung der komplexen Fragestellungen zur Transparenz des Produktionsprozesses und der Rückverfolgbarkeit der eingesetzten Materialien zwar grundsätzlich möglich, jedoch mit einem hohen Aufwand verbunden ist. Insbesondere Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Informationen, die in unterschiedlichen Systemen verwaltet werden, lassen sich kaum ermitteln.
Semantisches Modell verknüpft Produktinformationen
Diese Lücke kann durch ein semantisches Modell geschlossen werden, das durch seine Typisierung strukturierte Daten repräsentieren kann und gleichzeitig seine Stärken bei der Vernetzung verteilter Informationen hat. Mit einem vernetzen Modell, das alle Daten aus externen Systemen in Zusammenhang bringt, lassen sich darüber hinaus Konsequenzen aus Änderungen an Daten in einem System, auf die Daten aus den anderen Systemen durch Traversieren der Pfade im Modell ermitteln. Auf diese Weise können beispielsweise Anforderungen an Lieferanten bezüglich der Inhaltsstoffe aufgrund gesetzlicher Vorgaben direkt abgeleitet werden. Es ist unmittelbar ersichtlich, wie sich der Austausch eines Basismaterials und eine damit einhergehende Änderung der Konzentration einer Substanz durch alle Stücklisten propagiert, die dieses Material verwenden und mögliche Probleme werden für den Anwender direkt sichtbar.
Über die Verwaltung der tatsächlichen Daten hinaus, ergibt sich damit auch direkt die Möglichkeit, Änderungen bei den Materialien oder mögliche Verschärfungen eines Grenzwerts zu simulieren. Die Kosten eines Lieferantenwechsel, die im Qualitätsmanagement und bezüglich der Nachweispflichten entstehen, lassen sich damit hervorragend abschätzen.
Inhaltlich lassen sich die Objekte des Modells in drei unterschiedliche Bereiche aufteilen:
• „Materialwelt“: Produkte, Teilprodukte, Komponenten, Revisionen, Chargen, etc.
• „Substanzwelt“: Chemikalien, Farben, Inhaltsstoffe, etc.
• „Welt der Regularien“: Grenzwerte, Richtlinien, Gesetze, Schadstoffklassen, Freigaben, Prüfberichte etc.
Semantisches Modell ‒ Verknüpfte Informationen über Materialien, Substanzen und Regularien
Im Bereich der Materialwelt oder der „Stücklistenebene“ werden die Daten gespeichert und verwaltet, die man aus den beschriebenen ERP-Systemen für Produkte und Komponenten kennt. Das Modell enthält damit Objekte, die das Schema des Produktionsprozesses durch Komponenten, Prozesse, Produkte, Varianten, Revisionen und Chargen abbilden. Für ein Produkt stehen damit alle Stücklisten der Komponenten, die für die Fertigung benötigt werden, zur Verfügung.
Rückverfolgung ‒ Zuordnung von Freigaben zu Revisionen und Produkten
Zur Gewährleistung einer echten Rückverfolgbarkeit einzelner Artikel und Produkte muss das semantische Modell zudem in der Lage sein, sämtliche Produktions- und Prozess-Chargen zumindest zeitweise zu speichern. Einzelne Chargen können auf diese Weise mit Prüfberichten verbunden werden und damit, durch die Verbindung der Prüfberichte mit relevanten Gesetzen, den Übergang zu den Regularien schaffen. Da die Gesetze und Regelungen wiederum mit Substanzen und Substanzklassen verbunden sind, ergibt sich über den Weg vom Material über die Prüfung ein weiterer, indirekter Zusammenhang zu den chemischen Substanzen. Sie werden über ihre Substanzklassen kategorisiert und über eine Zuordnung zu den Risiko(R)- und Sicherheits(S)-Sätzen detaillierter beschrieben. Die R- und S-Sätze sind kodifizierte Warnhinweise zur Charakterisierung der Merkmale von Gefahrstoffen. Sie gehören zu den wichtigsten Hilfsmitteln für die innerhalb der EU vorgeschriebene Gefahrstoffkennzeichnung.
Rückverfolgung ‒ Zuordnung von Substanzen, Produkten und Regularien
Der Zusammenhang zwischen Materialien und Substanzen wird durch eine Beziehung ausgedrückt, wenn das Vorkommen einer Substanz in einem Material bekannt und dokumentiert ist. Über eine weitere Beziehung zwischen Materialien und Substanzen kann zudem eine durch den Produktionsprozess mögliche Verunreinigung eines Materials ausgedrückt werden.
Von den Substanzen existieren dann Verbindungen über Grenzwerte und Einstufungen zu den gesetzlichen Vorgaben und Regelungen. Während alle Elemente in Materialien und Produkten relativ statisch sind und nur gelegentlich geändert werden und insbesondere elektronisch aus den unternehmensinternen Systemen zur Verfügung gestellt werden, gilt dies leider aktuell nicht für Gesetze und die darin regulierten Substanzen und Grenzwerte. Die Übertragung der Zusammenhänge muss daher derzeit durch redaktionelle Arbeit erfolgen.
Fazit
Es gibt großen Handlungsbedarf – für Unternehmen fast aller Branchen. Die Rückverfolgbarkeit gewährleistet Unternehmen und Endverbrauchern Schutz und Sicherheit insbesondere vor dem Hintergrund schneller und transparenter Informationen. Dabei sollten Unternehmen jetzt handeln, im Zweifel proaktiv und nicht auf den Gesetzgeber warten. Semantische Lösungen bieten dabei einen entscheidenden Vorteil: Sie wollen keine Systeme ablösen, sondern als intelligenter Brückenbauer die entscheidende Informationslücke schließen.
Quellenangaben
[1] http://www.konsumentenbund.de/
[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/technik-probleme-rueckrufe-kosten-toyota-mehr-als-eine-milliarde-euro-a-675874.html
[3] Die bekommt man z.B. im Flagstore in Berlin – Anm. der Autorin.
[4] http://www.holzspielzeugkauf.de/info/Was-ist-die-Norm-fuer-Spielzeugsicherheit-EN-71.html: „Der Nachteil dieser Prüfnorm ergibt sich somit aus dem nicht abschließenden Katalog, der auf die Grenzwerte zu prüfenden Substanzen. Werden andere mehr oder minder schädliche Substanzen bei der Herstellung von Spielzeug verwendet, sind diese bei der Prüfung gemäß EN 71 nicht berücksichtigt.“ (Abruf am 12.02.2015)
Claudia Baumer, Marketing Communication Manager und Dr. Achim Steinacker, Presales Manager, beide bei der intelligent views gmbh. Das Unternehmen ist führend im industriellen Einsatz semantischer Technologie. Der Schwerpunkt von intelligent views liegt in der Umsetzung agiler, vernetzter, graph-basierter Projekte.