Interview mit
Dr. Daniel Schulten, Vorstand der Digitalagentur netzkern
und
Detlev Riecke, Vice President Central Europe beim Softwarehersteller Sitecore
Die meisten Menschen haben sich mittlerweile daran gewöhnt, viele Dinge digital zu erledigen. Unternehmen, die ihnen dabei individuell, schnell und angenehm weiterhelfen, stehen in der Gunst. Doch wie lässt die digitale Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen digital noch effektiver gestalten?
Im Interview mit dem DOK.magazin erklären Dr. Daniel Schulten, Vorstand von der Digitalagentur netzkern, und Detlev Riecke, VP Central Europe vom Softwarehersteller Sitecore, wie Kunden und Anbieter von einer personalisierten User Experience auf Webseiten und Portalen profitieren können und was bei solchen Digitalprojekten zu beachten ist.
Herr Schulten, Herr Riecke, hat sich in den letzten Wochen eine neue Ära der digitalen Kommunikation entwickelt?
Daniel Schulten: Zumindest ist die Erwartungshaltung an die digitale Interaktion noch weiter gestiegen. Wir haben ja schon vor Corona vieles rein digital erledigt. Aus der Corona-bedingten Isolation mussten wir plötzlich quasi alles digital und von zuhause erledigen – privat wie geschäftlich. Und die Unternehmen, die uns dabei am besten unterstützen, sind natürlich klar im Vorteil. Viele Menschen sehen keinen Mehrwert mehr darin, ihr Anliegen einem Menschen zu erklären oder irgendwo hinfahren müssen oder gar zu warten! Sie suchen zuerst nach einer schnellen, unkomplizierten Lösung mit ihrem Smartphone oder dem Desktop – und zwar in allen Phasen: von der initialen Produktsuche über den Vergleich, das Customizing, die Nutzung, den Service etc.
Detlev Riecke: Übrigens nicht nur im B2C. Die extrem digital-affine Generation Y ist laut einer Studie an 73 Prozent aller B2B-Kaufentscheidungen beteiligt. Das heißt, auch im B2B sind leicht nutzbare digitale Selfservices ein Muss.
Und diese Tendenz wird wahrscheinlich anhalten …
Daniel Schulten: Ja, Kundenbedürfnisse digital und hochgradig individuell zu erfüllen ist ein Megatrend. Das Zukunftsinstitut, der einflussreichste Thinktank der europäischen Trend- und Zukunftsforschung, hat sich intensiv mit Wandel beschäftigt und die Individualisierung und die Vernetzung als wesentliche, lang wirkende Megatrends identifiziert.
Detlev Riecke: Für Unternehmen bedeutet das: Sie müssen ihre Daten und Systeme besser vernetzen und neueste Personalisierungs-Features nutzen, um dem Einzelnen über Website und Portale wirklich individuelle Informations- und Interaktionsmöglichkeiten sowie mehr Eigenständigkeit zu bieten.
Was verstehen Sie unter Personalisierungs-Features? Der Inhalt einer Website oder eines Portals kann mit dem CMS schnell angepasst werden, aber im Prinzip liefert eine Website doch stets die gleichen Informationen für alle aus. Man muss sich eben durchklicken, um das Gesuchte zu finden. Kann das individueller gestaltet werden?
Detlev Riecke: Sehr gute Frage! Die Funktionsweisen und Vorteile von dynamischen, personalisierten Webseiten sind selbst bei vielen Marketern und auch bei einigen Agenturen nicht ausreichend bekannt. Viele denken dabei an Empfehlungsalgorithmen à la Amazon und tun sie als E-Commerce-Thema ab. Aber damit hat das nichts zu tun. Prinzip und Umsetzung der Website-Personalisierung sind recht einfach: Der Redakteur definiert personalisierbare Bereiche wie eine Box auf der Homepage und hinterlegt passende Inhalte für verschiedene Zielgruppen oder Anlässe. Es können natürlich auch ganze Landingpages oder Unterbereiche voll kontextbasiert ausgeliefert werden. Ist das getan, erkennt beispielsweise unsere Sitecore Experience Platform die Nutzer dann über drei Methoden und liefert ihnen automatisch in der Box oder dem definierten Bereich den passenden Inhalt für sie aus.
Nach welchen Kriterien arbeiten denn diese Methoden?
Detlev Riecke: Die regelbasierte Personalisierung nutzt eine „Wenn-dann-Logik“ und reagiert auf den digitalen Fingerabdruck des Nutzers: Usern aus Süddeutschland zeige auf der Startseite Banner 1, allen anderen Banner 2. Am Wochenende wird automatisch für alle Banner 3 geschaltet usw. So kann eine komplette Website durchpersonalisiert werden.
Bei der vorausschauenden Personalisierung reagiert die Experience-Plattform in Echtzeit auf das Browse-Verhalten und antizipiert Zugehörigkeiten und Interessen. Outet sich ein Website-Besucher per Klick beispielsweise als Geschäftskunde, werden ihm verstärkt die passenden B2B-Angebote angezeigt. Interessiert sich ein anderer Besucher für Karriereseiten, so werden auch auf den Nicht-Karriereseiten interessante Employer-Branding-Inhalte dargestellt usw.
Dritte Variante: Eine Kombination aus regelbasiert und vorausschauend, also explizites Personalisieren auf Basis eingeloggter Benutzer.
Daniel Schulten: Dazu kommt, dass auch Nutzer, die per Online-Werbung auf die Website geführt werden, von da an mit deutlich relevanteren Inhalten zum Ziel geführt werden können. Der Nutzen des Werbe-Investments steigt dadurch.
Können Sie das vielleicht kurz an einem Beispiel erläutern?
Daniel Schulten: Gerne. Angenommen Sie suchen bei Google nach einem SUV und klicken dann auf einer Google-Ads-Anzeige den SUV der Automarke X. Damit verraten Sie doch: „Hallo Automarke X, ich interessiere mich für euren SUV.“ Automarke X zahlt Geld an Google, um erstens den Interessenten auf die Website zu locken und auch, um zweitens zu wissen, wonach dieser konkret sucht. Es gibt dem Werbenden die Möglichkeit, sofort den richtigen Einstieg zu bieten – also in dem Fall nur SUVs anzuzeigen. Doch wie geht es weiter? Klickt der Interessent dann auf der Website weiter auf Gebrauchtwagen, sollten dort doch möglichst alle gebrauchten SUVs erscheinen und nicht alle gebrauchten Pkw, richtig? Das passiert auf statischen Seiten aber nicht. Auf dynamisch personalisierten Seiten geht das.
Natürlich sollten auch Nutzer, die die Homepage direkt besuchen, passende Informationen erhalten, anstatt des üblichen „Hey, schau doch mal, was unsere Marke oder unser Konzern so alles zu bieten haben. Vielleicht ist für dich etwas dabei.“ Auch das ist mit einer modernen Experience-Plattform leicht möglich: Durch Auslesen der Geo-IP stellt sie fest, wo der Nutzer herkommt: Aus welchem Land, welcher Stadt oder Region? Der Nutzer wird automatisch auf die richtige Länder-Homepage mit passendem Content für sein Device geleitet. Es werden die für die Stadt oder Region des Nutzers relevanten Kontaktinfos, also Händler in der Nähe, regionale News, Events etc. angezeigt. Das alles zahlt auf die Usability ein. Zudem können auch zuvor gespeicherte Profil-Informationen genutzt werden.
Personalisierung lässt sich also für alle erdenklichen Fälle einsetzen …
Detlev Riecke: Ja, beispielsweise für die getrennte Ansprache von Privat- und Geschäftskunden. Es gibt auch Fälle, in denen die Personalabteilung Jobinteressenten individuell auf der Website adressieren möchte: Ein Werkstudent, ein Ingenieur und ein Top-Manager möchten zum einen anders angesprochen werden, zum anderen benötigt das HR-Team auch gänzlich andere Informationen von den drei Bewerbergruppen. Beim Top-Manager reicht im Zweifel ein Link auf sein Xing- oder LinkedIn-Profil, beim Ingenieur sind Zeugnisse und technische Qualifikationen gefragt, beim Werkstudenten zählt eher die Motivation. Mit Personalisierung können Sie die gesamte Bewerbungsstrecke relevant und überzeugend gestalten.
Es gibt ja den schönen Satz: Content is King. Aber Kontext muss als Königin dabei sein! Eine Studie von Accenture zeigt, dass 81 Prozent der Verbraucher möchten, dass Marken sie besser verstehen und wissen, wann sie sich an sie wenden sollen – und wann nicht. Und das geht mit Personalisierung perfekt!
Doch warum sind dann noch gefühlt recht viele Unternehmens-Websites eher starr? Sie haben dazu 2019 internationale Geschäfts- und Marketingleiter aus 15 Branchen befragt. Was waren die Ergebnisse?
Detlev Riecke: Es gibt eine erstaunliche Lücke zwischen Wunsch und Realität. 85 Prozent der Marketingleiter und leitenden Führungskräfte geben an, dass die Personalisierung digitaler Erlebnisse eine wichtige Facette ihres Marketing-Ökosystems darstellt. 66 Prozent der Marketingleiter sehen sich selbst als „Experte“ oder „führend“ bei der Bereitstellung von personalisierten digitalen Erfahrungen an. Und jetzt kommt das große ‚Aber‘: Weniger als 40 Prozent der von uns befragten Marketer nutzen derzeit selbst die einfachsten Kriterien für eine Personalisierung. Ihnen fehlt ein klarer Plan, ob und wie Personalisierung strategisch und operativ umgesetzt werden soll – obwohl sie die Bedeutung der Personalisierung anerkennen.
Daniel Schulten: Deshalb bieten wir Workshops für Einsteiger. Wir nehmen die Marketer und Redakteure an die Hand und zeigen ihnen, wie einfach Website-Personalisierung eigentlich ist. Sie setzen dann direkt ein Beispiel um. Ein erster kleiner Schritt für die Website, ein großer Schritt fürs Verständnis von dynamischem Content Management sozusagen.
Welche Möglichkeiten gibt es noch, um die geschäftliche Interaktion mit Kunden besser zu gestalten?
Daniel Schulten: Ein Riesenthema sind geschützte Portalumgebungen. Kunden- und Händlerportale vereinen die Megatrends Individualisierung und Konnektivität in Perfektion – wenn sie denn richtig umgesetzt sind. Hier sehen wir derzeit eine enorme Nachfrage.
Sind Kundenportale nicht auch ein eher alter Hut?
Daniel Schulten: Ganze Branchen transformieren derzeit vom Produkt- zum Serviceanbieter. Die App und das dahinterstehende Kundenportal sind plötzlich im Zentrum des Geschäftsmodells. Das ist in der Automobilindustrie, aber auch in vielen anderen Industrie- und Dienstleistungsbereichen heute schon Realität. Der Kunde hat buchstäblich alles in der Hand und kann autark Angebote des Unternehmens nutzen und Prozesse anstoßen.
Dafür müssen individuelle Informationen wie Angebote, Verträge, Korrespondenz, Termine sowie Services und Tools in einem geschützten Bereich bereitgestellt werden. Vorteil: Man muss nicht mehr Ordner wälzen, E-Mail-Ablagen durchforsten oder beim Anbieter anrufen. Beide Seiten sparen Zeit, meist auch Kosten und profitieren von schnelleren, weil nahtlosen Prozessen. Wir haben solche Portale für sehr unterschiedliche Unternehmen wie den DAX-Konzern Vonovia, den Energie- und Kommunikationsversorger EWE, den Werkzeughersteller Festool und viele mehr realisiert und das Ergebnis hat die Kunden unserer Kunden immer begeistert.
Zahlt sich dieser Service für die Kunden denn auch aus?
Detlev Riecke: Auf jeden Fall, denn solche Portale kurbeln zudem den Umsatz durch Up- und Cross-Selling an: Der Anbieter kann an einem zentralen und häufig genutztem Touchpoint maßgeschneiderte Angebote unterbreiten, also beispielsweise passende Ersatzteile, Add-on-Services oder auch auf Updates/Upgrades. Er kann auf passende Events hinweisen, Händlern ihre nächste Bonusstufe anzeigen etc. Marketer können Präferenzen abfragen, um noch gezielter auf Bedürfnisse einzugehen, oder Kunden über Umfragen an der Entwicklung teilhaben lassen. Kunden haben das Gefühl von Freiheit, Selbstbestimmtheit, Bequemlichkeit, Service, Hilfe und werden schneller zu Brand Lovern und Multiplikatoren.
Klingt alles gut, aber wo hakt es Ihrer Meinung nach noch?
Daniel Schulten: Problematisch ist, dass Unternehmen gerne ein Häkchen setzen, sobald ein gewisses Soll erreicht ist. Sobald ein technisch funktionierender Standard mit Basisfunktionalität live ist, ist das Thema oftmals vom Tisch. Doch die Praxis zeigt leider, dass viele Angebote zu stark aus der Innensicht gestrickt und nicht wirklich auf die unterschiedlichen Experience-Erwartungen der Personas ausgerichtet sind. Ein gutes Portalangebot entsteht nur gemeinsam mit den Zielgruppen. Und es gibt typische Stolpersteine bei der Planung und Umsetzung von Portalprojekten, die man kennen sollte. Wir haben Ihnen diese in einer Übersicht aufbereitet.]
Herr Schulten, Herr Riecke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Stolpersteine bei der Umsetzung eines Kundenportal-Projekts
Tipp | Warum ist das wichtig? |
Identifizieren Sie für das Projekt wichtige Personen im Top-Management, der IT, dem Service / Callcenter, dem Vertrieb und Datenschutz. Identifizieren Sie ggf. auch wichtige Champions (z. B. den Leiter Vertrieb) in den Niederlassungen. | Sie brauchen ein Projekt-Team, das crossfunktional arbeitet. Also Experten, die sich wirklich mit Ihren Kunden auskennen, genauso wie unterschiedliche IT-Spezialisten (für Ihr CMS, Ihr CRM, Ihr E-Commerce etc.). Es müssen ja viele Prozesse geändert werden und das erfordert ein starkes Team und Commitment! |
Gewinnen Sie die internen Stakeholder für das Thema Online Selfservices. | Change ist wichtig, aber einige sehen Veränderungen auch kritisch oder haben Angst davor, ihren Job zu verlieren. Insbesondere die Hotline und Servicebereich müssen mit eingebunden werden, weil sie in engem Kundenkontakt stehen. Geben Sie allen eine Stimme und lassen Sie sie frühzeitig das Projekt mitgestalten. |
Identifizieren Sie Kolleginnen und Kollegen, die Lust darauf haben, digital über den Tellerrand zu blicken. | Insbesondere die jüngere Generation brennt oft für Veränderung, hat viel eigene Customer Experience und kennt interaktive Trends. Warum nicht auch den Werkstudenten oder Diplomanden in das Projekt einbinden?! |
Think big: Entwerfen Sie ein möglichst visionäres Big Picture für die digitale Interaktion mit Ihren Kunden. | Je mehr und tiefgreifender Sie am Anfang verändern wollen, desto mehr wird auch tatsächlich dabei rauskommen. Ihre Vision soll einen echten Mehrwert im Sinne des Kunden erzielen sowie Einsparungen für Ihr Unternehmen. Nur einige Prozesse digital abbilden reicht nicht! |
Sehen Sie nicht alles wertoptimiert und fragen Sie nicht nur: Wo kann ich einsparen? Planen Sie möglichst viel Zeitersparnis für Ihre Kunden ein! | Kostenreduktion ist ein wesentlicher Motor für Kundenportal-Projekte. Allerdings muss auch die Kundenerfahrung stimmen. Planen Sie Features mit ein, die vor allem Ihren Kunden einen Mehrwert bringen (und für Sie evtl. Mehrarbeit). Setzen Sie dafür die Kundenbrille auf. Und denken Sie daran: Ihr Kunde will es schnell, einfach, ohne Medienbruch, ohne Rückfragen. Ihr Lohn: Kundenzufriedenheit zahlt sich langfristig immer aus. Wenn Bequemlichkeit und Zeitersparnis winken, sind Kunden bereiter denn je, Service selbst in die Hand zu nehmen. |
Lernen Sie Ihre Prozesse mit den zugehörigen technischen Schnittstellen kennen. | Sie sollten eine möglichst detaillierte Übersicht Ihrer Prozesse und der dazugehörigen Lösungen haben, um daraus etwas Neues zu entwickeln. Insbesondere die Drittsysteme und ihre Schnittstellen spielen eine große Rolle für den technischen Erfolg Ihres Projekts. Sind diese ordentlich dokumentiert? Können Ihre Entwickler darauf zugreifen und diese anpassen? Ist die Roadmap der Drittsysteme klar? Die meisten Systeme sind historisch gewachsen, manche nicht für den Online-Einsatz konzipiert und andere komplette Blackboxes. Je klarer Sie „durchsehen“ und hierzu Antworten haben, umso leichter fällt später die Umsetzung.
Markieren Sie auch insbesondere Prozess- und Medienbrüche, um diese später zu eliminieren. Wenn beispielsweise eine Adressänderung im Portal eine manuelle Handlung auslöst, läuft etwas falsch! |
Stellen Sie menschlichen Kontakt sicher. | Heute lassen sich der komplette Kundendialog und Business-Prozesse von A bis Z digital und mit Chatbot-Dialogen abbilden. Denken Sie aber daran: Manche Menschen möchten auch noch mit Menschen kommunizieren. Sie sollten Ihre Hotline deshalb nicht komplett durch Online Selfservices ersetzen. |
Die Digitalagentur netzkern ist eine der größten Full-Service-Digitalagenturen Deutschlands mit über 100 Mitarbeitern an den Standorten Wuppertal und Hamburg. Die Agentur bietet sämtliche Leistungen für anhaltend erfolgreiche Digital Experience- & E-Commerce-Lösungen. Die Digitalspezialisten unterstützen Großunternehmen wie Bayer, Covestro, RWE, Vonovia, EWE, Düsseldorf Flughafen, Esri, Festool, HEM und TÜV SÜD aber auch KMUs und NGOs.
Der Softwarehersteller Sitecore ist weltweiter Marktführer für Experience Management-Software. Mehr als 5.200 der weltweit führenden Marken vertrauen Sitecore. Die Sitecore® Experience Platform™ (XP) führt Kundendaten, Analysen und Marketing-Automatisierung zusammen, um Kunden während ihrer Customer Journey in jedem Kanal in Echtzeit mit personalisiertem Content zu versorgen.