Marcus Bond, Digitalurgestein und leidenschaftlicher Business-Kommunikator, befragt für uns in jeder DOK.Ausgabe eine bekannte Persönlichkeit zu Themen, die aktuell bewegen.
Diesmal:
Matthias Horx, der bekannte deutschen Trend- und Zukunfts-forscher. Das von ihm gegründete Zukunftsinstitut untersucht seit Jahren die globalen Megatrends – die Tiefenströmungen des Wandels.
«Der Megatrend New Work beschreibt einen epochalen Umbruch, der mit der Sinnfrage beginnt und die Arbeitswelt von Grund auf umformt . Es wäre wichtig, die richtige Balance zwischen Digitalem und Analogem im Sinne humaner Kriterien und Grenzen zu finden. »
Man hört und liest immer wieder, dass es ein Zurück nach der Pandemie nicht mehr geben wird. Im echten Leben spiegelt sich diese Aussage nicht unbedingt wider: Die Lust auf Restaurant, Biergarten, Reisen, Yogastudio, Shopping und auch auf gemeinsames Arbeiten im Büro ist groß. Daher stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Pandemie tatsächlich hat.
Marcus Bond: Herr Horx, Sie sehen ja die Prä-COVID-Konsumnormaliät eher kritisch. Warum?
Matthias Horx: Corona hat uns drastisch darauf hingewiesen, dass wir uns vorher längst in einer Wohlstandskrise befanden. Das, was so schön als das „Alte Normal“ bezeichnet wird, war ein „Über-Normal“, und das in vielen Lebensbereichen.
- Über-Digitalisierung: Smartphone als Schnittstelle zu allem, digitale Abhängigkeit (insbesondere bei Kindern), digital gesteuerte Lebensoptimierung, Entfremdung der Arbeit etc.
- Über-Konnektivität: permanent online, immer erreichbar, hyper-informiert
- Über-Verfügbarkeit: immer alles, wenn ich es gerade haben möchte.
- Über-Tourismus: jedes Jahr mehr Flüge zu immer billigeren Preisen.
Wir waren in die hedonistische Tretmühle, in eine Sättigungskrise geraten. Da jede Steigerung von Genuss einen abnehmenden Grenznutzen hat – jedes weitere Schnitzel und noch mehr Champagner wird irgendwann fad – macht sich eine innere Unzufriedenheit breit.
Dann kam Corona und hat die Sättigungskrise in eine Sehnsuchtskrise verwandelt. Wir sehnten uns schrecklich nach allem, was wir früher im Überfluss hatten – Party, Urlaub, Lärm, Genuss, Sinnlichkeit, Verfügbarkeit. Sogar nach Stress. Aber gleichzeitig zwingt uns die Sehnsucht dazu, unsere eigenen Wünsche aus neuer Perspektive zu betrachten: Waren wir im „alten Normal“ wirklich glücklicher? Fühlte sich das „Alles-ständig-Können“ wirklich gut an? Was hat uns tatsächlich gefehlt?
« Real-Digitalität wurde der einzige Weg zu den Kunden – und zu den Mitarbeitern »
Marcus Bond: Starten wir aktuell vielleicht in die spannendste Zeit für unsere Zukunft, da wir unsere neue Normalität definieren? Vieles scheint verhandelbar: Wieviel Büro/Home-Office wollen wir? Welche Meetings sind in persona sinnvoller? Können Vorstellungsgespräche, Hauptversammlungen etc. nicht besser weiter rein virtuell stattfinden? Wie starr sollte die Präsenzpflicht an Schulen sein? Oder auch: Welchen Mehrwert sollte uns das reale Shoppingerlebnis bieten?
Matthias Horx: Definitiv! In Momenten, in denen sich unsere Normalität plötzlich verändert, werden wir uns ihrer Konstruiertheit wieder bewusst – und ihrer Gestaltbarkeit. Corona hatte genau diesen Effekt: Normalität wird heute von so vielen Menschen als etwas aktiv Gestaltbares begriffen wie nie zuvor. So ist es auch mit der Zukunft. Wir erleben derzeit auch eine große Emotionalität. Viele Regeln von gestern stellen wir vehement in Frage. Emotionen sind so gesehen ein Seismograf für Veränderungen. Erst wenn wir emotional werden, wissen wir, dass es uns wirklich betrifft.
Marcus Bond: Sie beschäftigen sich seit gut zwanzig Jahren mit Megatrends. Ihr Zukunftsinstitut stellt die globalen Entwicklungen in einem jährlichen Report vor. Welche Veränderungen sind auffällig?
Matthias Horx: Individualisierung war bislang einer der wirkungsstärksten Megatrends. Alles, was unsere Wahlfreiheit erhöht, sei es im Business-Kontext oder privat, steht in unserer Gunst. Durch die Pandemie wurde der Gegentrend „Solidarität und Gemeinschaft“ jedoch wichtiger als die Individualität. Es gibt eine neue, starke Sehnsucht nach Zugehörigkeit, danach, Teil einer sinnstiftenden Bewegung zu sein. Selbstverwirklichung ist nicht unwichtiger geworden – jedoch wird sie heute und künftig viel stärker in Kontexten der Zugehörigkeit und Gemeinschaft gesucht. Unternehmen sollten Raum für solche Zugehörigkeiten bieten.
Marcus Bond: Die Pandemie hat die Digitalisierung weiter befeuert. Vieles, was vorher unmöglich schien, ging plötzlich. Es gab gefühlt kaum Lücken. Im Gegenteil: Unsere Industrie boomt, wir haben beachtliche Forschungserfolge hingelegt und die deutschen Autobauer haben während der Pandemie in Sachen E-Mobilität und Vernetzung einen deutlichen Sprung gemacht. Scheinbar sind wir doch digital vernetzter als gedacht. Hat Sie das überrascht?
«Es geht heute auch um eine Ausbalancierung des Digitalen und des Analogen im Sinne humaner Kriterien und Grenzen.»
Matthias Horx: Es hat vor allem eins gezeigt: dass der digitale Wandel kein rein technologisches Phänomen ist, sondern ein soziotechnischer Prozess. Viele Entwicklungen wie Home-Office und Video-Meetings wurden zuvor nur kulturell oder politisch gebremst. Als sie für die Unternehmen überlebenswichtig wurden, bedurfte es nur dem buchstäblichen Ruck und in kürzester Zeit waren die digitalen Prozesse und Kommunikationsformen angepasst – genauso alltäglich wie kontaktloses Bezahlen im Supermarkt.
Von daher hat es mich nicht überrascht. Im Kern der digitalen Transformation stehen weniger digitale Technologien als eine zukunftsweisende Führungskultur, die Veränderung mit alle ihren Erfordernissen und Geburtsschmerzen erlaubt und aktiv mitgestaltet.
Marcus Bond: In der Krise zeigt sich also auch die Resilienz von Gesellschaft und Wirtschaft?
Matthias Horx: Krisen setzen immer ein hohes Maß an Kreativität frei, und auch die Coronakrise zeigte, dass Not erfinderisch macht: In kürzester Zeit entstanden neue digitale Geschäftsmodelle, neue Konzepte gemeinsamen Arbeitens wurden von heute auf morgen gelebt. Und: Die Weltwirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Europa ist nicht auseinandergefallen. Die Aluhüte haben nicht die Macht ergriffen, obwohl das im Fernsehen immer so aussah. In einem halben Jahr wurden fast 4 Milliarden Impfdosen produziert und ausgeliefert. Weltweit.
Innovative Energie wird in Krisen aber nicht durch Stress, Angst und Unsicherheit freigesetzt – diese Faktoren wirken sogar eher hemmend auf kreatives Denken. Entscheidend ist vielmehr der Wegfall alter Muster und Regeln: Bestehende Systeme funktionieren nicht mehr, die Zukunft ist plötzlich wieder völlig offen, die Welt darf wieder völlig anders gedacht werden.
Marcus Bond: Sie sprechen in Ihrem Megatrends-Report davon, dass die Pandemie zu einer Real-Digitalität geführt hat. Was ist damit gemeint?
Matthias Horx: Wir blicken auf eine lange Hype-Phase der Digitalisierung zurück, in der vieles durcheinander geriet. Neue Technologien wurden euphorisch gefeiert. Ein Beispiel ist das Phänomen des Dataismus: Angefeuert vom Hype um die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Big-Data-Datenauswertung entsteht eine „Digitalreligion“, die die Lösung jeglicher Probleme verspricht. Ebenso überhypt wurde auch die Künstliche Intelligenz. Auf der anderen Seite wurden oft dringend notwendige Digitalisierungsmaßnahmen ignoriert und blockiert.
Die Coronakrise hat Gesellschaft und Wirtschaft nun zwangsdigitalisiert – vor allem die KMUs, die vor Corona noch nicht die Not zur Digitalisierung sahen. Sie bieten heute Verkauf im Online-Shop, Kundenportale mit Self Services, Stilberatungen via WhatsApp, Präsentationen und Kollektionsverkäufe auf Instagram, Terminvereinbarungen über Facebook. Digitale Lösungen, die dem Menschen real, also offline weiterhelfen. Real-Digitalität wurde der einzige Weg zu den Kundinnen und Kunden – und zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Es geht heute auch um eine Ausbalancierung des Digitalen und des Analogen im Sinne humaner Kriterien und Grenzen. Wir sehen Technologie stärker als Erfüllungsgehilfen, der uns im Menschsein unterstützt. Die zentralen Zukunftsfragen lauten: Was bedeuten KI und Co. für unseren Alltag, für unser Zusammenleben? Wie viel technologische „Intelligenz“ ist für Menschen überhaupt sozial, emotional und mental tragbar? Und welchen Einfluss haben ständig verfügbare Informationen und virtuelle Vernetzung auf die Gesellschaft, etwa auf Demokratisierungsprozesse?
Marcus Bond: Ein Bereich, bei dem es schon lange keine ‚Normalität‘ mehr gibt, ist die Arbeitswelt. Heute kann ich in meinem Co-Working-Büro auf der gemütlichen Ledercouch, in der schicken Bibliothek, im Café, im designten Separee oder normal am Schreibtisch arbeiten. Es gibt Tischtennisplatten, einen Meditationsraum, Yoga-Angebote und eine super professionelle digitale Kommunikationsplattform. Das sind für mich echte Qualitäten, die mich in meiner Arbeitszeit bereichern. Sie führen New Work auch als Megatrend. Welche Erkenntnisse liefert Ihre Forschung?
Matthias Horx: Der Megatrend New Work beschreibt einen epochalen Umbruch, der mit der Sinnfrage beginnt und die Arbeitswelt von Grund auf umformt. Dabei lassen sich die Veränderungen in mehreren Bereichen feststellen.
Inhalt: Eine Studie des Bitkom hat 2019 schon ergeben, dass es 96 Prozent der Berufstätigen wichtig ist, sich mit den Werten der Arbeitgeber identifizieren zu können, und fast ebenso viele wünschen sich eine Arbeit, die sinnstiftend ist.
Zeit: Skandinavische Länder leben in Sachen Arbeitszeit schon heute das Arbeitsideal der Zukunft: weniger ist mehr. Arbeitszeit wird nicht mehr als Wochenkontinuum verstanden, sondern als flexibles Kontingent, das sich individuellen Situationen und Lebensphasen anpassen kann. Die Dreißigstundenwoche als Vollzeit macht mitunter produktiver und lässt Krankenstände schrumpfen.
Ort: Corona hat das Büro wieder attraktiver gemacht. Während Remote Work von konzentrierten Deep-Work-Phasen geprägt ist, wandelt sich das Büro der Zukunft vom Arbeitsort zum Hub für Co-Creation und Co-Working, für reale zwischenmenschliche Beziehungen und echte Unternehmenskultur. Das Büro der Zukunft ist der Ort, an dem Unternehmenswerte gelebt werden, Wir-Gefühl entsteht und an dem gemeinsam Neues geschaffen wird.
Wir steuern nach Corona auf ein „Work-Life-Blending“ zu. Die Suche nach der Balance zwischen Arbeit und Freizeit (Work-Life-Balance) war stets konfliktbehaftet, denn irgendwas kommt immer zu kurz. Work-Life-Blending entzerrt diese Konflikte: Wo die Grenze zwischen Arbeits- und Berufsleben verschwindet, können persönliche Bedürfnisse im Tagesverlauf besser berücksichtigt werden. Das schafft nicht nur Entspannung und mehr Lebensqualität, sondern steigert auch die Freude an der Arbeit.
Marcus Bond: Für New Work und die Arbeitswelt hat Corona also vielversprechende Weichen gestellt?
Matthias Horx: Ja, und es gibt eine weitere Entwicklung: In den USA, aber auch bei uns in Europa, kommen plötzlich Millionen Menschen nicht mehr zurück zur Arbeit. In den USA redet man vom “labor crunch”, besonders in den schlechtbezahlten Branchen sind plötzlich viele Mitarbeiter verschwunden. In Europa fehlen Arbeitskräfte überall. Handwerker sind so begehrt, dass man ihnen rote Teppiche ausrollt. Könnte das der Beginn einer dauerhaften Veränderung der Arbeitswelt in Richtung auf mehr Eigenbestimmung und Würde sein, ein Work Shift?
Marcus Bond: Herr Horx, vielen Dank für das interessante Gespräch! Es gäbe von viel mehr zu den weiteren Megatrends zu sagen. Wir belassen es hier bei den Themen Digitalisierung und Arbeit.
Weitere Informationen gibt es sowohl in der ausführlichen Megatrend Dokumentation als auch im neuesten Buch „Die Hoffnung nach der Krise“ von Matthias Horx.
Seit 20 Jahren übt sich Matthias Horx in der Kunst des Keynote-Vortrags in Management- oder Politik-Kreisen und auf großen Konferenzen. Seine Vorträge sind provokativ, humorvoll und aufmunternd, sie handeln immer von den großen Zusammenhängen: Technologie, Humanismus, Zukunftsoptimismus, (Neo-)Digitalisierung und (Neo-)Ökologie. In seinen Reden und zahlreichen Publikationen geht es immer auch darum, wie wir über die Zukunft denken und fühlen – und wie konstruktive Visionen Gesellschaft und Wirtschaft verändern können.