Autor – Alexander Gesinn, Geschäftsführender Gesellschafter der gesinn.it GmbH & Co. KG
Wiki-Technologien haben bereits in zahlreiche Unternehmen und öffentliche Institutionen Eingang gefunden. Bei all den Vorteilen, die sie bieten, sind sie jedoch nur bedingt für professionelles Prozessmanagement zu verwenden. Semantic MediaWiki bietet interessante Ansatzpunkte, um die Nachteile bisheriger Wiki-Systeme zu überwinden und als Prozessmanagement 3.0 entscheidenden Mehrwert für die Organisation zu schaffen.
Von der Exklusivität zur Wiki-basierten Kollaboration: Prozessmanagement 1.0 und 2.0
Das „Prozessmanagement 1.0“ bildete sich vor allem seit den 1990er Jahren als hoch professionalisiertes Betätigungsfeld heraus, das bis heute häufig von eigens ausgebildeten Fachkräften betreut wird. Spezialisierte Software-Werkzeuge und die Standardisierung von Abläufen im Unternehmen, beispielsweise mittels ERP-Systemen sorgen zumindest in den größeren Unternehmen dafür, dass die Geschäftsprozesse meist von relativ wenig Menschen definiert aber von der Gesamtheit der Mitarbeiter befolgt werden sollen. Als Folge spiegeln die dokumentierten Prozesse häufig weder die Wirklichkeit im Unternehmen wider, noch sind sie aktuell genug, um den Verantwortlichen echte Steuerungsmöglichkeiten zu gewährleisten [1].
Anstatt Webinhalte lediglich zu lesen, ist es Nutzern dank Web 2.0-Technologien inzwischen geläufig, diese selbst zu erstellen, zu kommentieren und zu bearbeiten. Auch zahlreiche Unternehmen sahen unter dem Stichwort „Enterprise 2.0“ bald die Anwendungsmöglichkeiten derartiger Technologien. Als Tools kamen im Prozessmanagement zunächst Content Management-Systeme in Frage, dann zunehmend auch Wikis, da diese einfach zu bedienen sind und in der Regel Revisionssicherheit im Sinne der Qualitätssicherung bieten: Indem alle inhaltlichen Änderungen automatisch vom System erfasst sowie mit einem Zeitstempel und dem Namen des Nutzers versehen werden, kann die Revisionshistorie transparent gemacht werden [2].
Herausforderungen für das kollaborative Prozessmanagement mit Enterprise 2.0-Wikis
Die wichtigste Herausforderung für die Adaption von Wiki-basierten Web 2.0-Systemen ist, dass Wikis traditionell eher auf die schnelle und effiziente Erstellung von textlichen Inhalten ausgelegt sind, während Prozesse meist mit Hilfe von Ablaufdiagrammen grafisch dokumentiert werden. Inzwischen gibt es für die am meisten verbreiteten Wiki-Systeme zwar Add-ons, mit denen sich Ablaufdiagramme komfortabel erstellen und in Wiki-Seiten einbetten lassen. Die damit erarbeiteten Prozessbeschreibungen können zwar mit Hilfe von Kategorisierungswerkzeugen verschlagwortet werden, sind inhaltlich aber nicht auswertbar.
Wikis „2.0“ weisen auch nur relativ geringe Strukturierungsmöglichkeiten auf, die für ein effektives Prozessmanagement notwendig sind. Sollen Arbeitsgruppen daneben kollaborativ an der Definition, Dokumentation oder Veränderung von Prozessen arbeiten, so muss die Möglichkeit bestehen, diese ohne großen Aufwand zu koordinieren, Arbeitspakete bei Bedarf einzelnen Nutzern zuzuweisen und die Gruppe über den Fortgang der Arbeiten auf dem Laufenden zu halten.
Workflow-Tools, die zum Beispiel Wiedervorlagen bereitstellen, sind in den meisten Wiki-Systemen entweder gar nicht vorhanden oder nur mit separaten Add-ons zu verwirklichen, die nicht mit anderen Funktionsbereichen des Systems verknüpft sind. Ein Workflow ist in diesem Fall eben ein Workflow; die Inhalte des Workflows stehen aber für sich und können nicht an anderer Stelle im System genutzt werden.
Prozessmanagement 3.0 mit Semantic MediaWiki
Interessante Ansatzpunkte, die hier geschilderten Adaptionshürden für Wiki-Technologien als kollaborative Prozessmanagement-Plattformen zu umgehen, bietet Semantic MediaWiki. Während Wikis „2.0“ Texte enthalten, die Computer weder verstehen noch auswerten können, reichern semantische Wikis die Inhalte zusätzlich mit sogenannten semantischen Annotationen an. Indem Inhalte wie in einer Datenbank automatisch klassifiziert werden, können sie im Gegensatz zu denen in traditionellen Wikis auch strukturiert ausgewertet werden. Das System erkennt aus dem Kontext heraus, worum es sich zum Beispiel bei dem Wort „Lehre“ handelt – die Berufsausbildung oder das Prüfinstrument.
Die Anreicherung der Inhalte mit semantischen Annotationen kann manuell geschehen, indem einem Begriff im Wiki-Text eine „Markierung“ beigefügt wird. Manuelles Annotieren ist jedoch mühsam und fehleranfällig. Deshalb arbeiten semantische Wikis häufig mit Eingabeformularen, die die freie Texteingabe ergänzen und im Hintergrund für den Nutzer unbemerkt Annotieren.
Anhand von drei Kernanforderungen an das moderne Prozessmanagement kann gezeigt werden, wie die semantische Technologie ihre Wirkung entfaltet und hilft, die Adaptionshürden für Wiki-basiertes Prozessmanagement zu überwinden: Erstens, der flexiblen Abbildung komplexer Anforderungen; zweitens, der Konsistenz und Aktualität der Inhalte; drittens, der Umsetzung eines ganzheitlichen, die gesamte Organisation einbeziehenden Prozessmanagements [3] [4].
Abbildung komplexer Prozesse
Mit zunehmender Kundenorientierung in den Unternehmen ist die Notwendigkeit gestiegen, flexibel auf Kundenanforderungen und Veränderungen im Umfeld zu reagieren. Damit müssen auch Prozesse und Prozessdarstellung anpassbar sein. Jeder Prozessmanager weiß, wie mühsam es ist, die Flowcharts stets wieder aufs Neue ändern zu müssen. Semantic MediaWiki geht, verglichen mit traditionellen Lösungen zur Prozessdarstellung genau den umgekehrten Weg: In Semantic MediaWiki verwendet der Nutzer ein Formular für die Erstellung von Prozessen und Prozessschritten. Der Nutzer gibt auch an, wie ein Prozessschritt mit anderen Prozessschritten in Verbindung steht. Die Software zeichnet dann vollautomatisch das entsprechende Flowchart. Muss ein neuer Prozessschritt hinzugefügt werden, so wird dieser einfach per Formular beschrieben und die Software gleicht alle Grafiken ohne weiteres Zutun des Nutzers an.
Eingabefelder lassen sich ganz im „Wiki-Stil“ einfach und ohne Programmierung hinzufügen oder ändern. So kann ein Eingabeformular etwa Felder für Titel und Beschreibung des Prozessschrittes, der verwendeten Ressourcen, Ausführungsverantwortlichen und weiteren Ansprechpartnern für diesen Schritt beinhalten. Zusätzlich können aber auch quantitative Daten abgefragt werden, wie etwa geplante Dauer und Kosten des Prozessschrittes, geplante Ausführungszeiträume und Risikobewertungen. Diese Daten stehen auswertbar zur Verfügung.
Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die mit traditionellen Prozessmodellierungswerkzeugen und Wikis „2.0“ nicht umsetzbar sind: So kann die Software zum Beispiel Prozessschritte zu einem Gesamtprozess konsolidieren und automatisch Länge, Kosten, Risikobewertung und Planungsspanne für den Gesamtprozess berechnen. Die Ergebnisse können in vielerlei Form, wie Tabellen, Diagrammen und komplexeren Management-Cockpits angezeigt werden. Gerade für Techniken wie das von Brook als „data driven problem solving“ beschriebene Six Sigma kann Semantic MediaWiki deshalb eine ideale Prozessmanagementplattform darstellen [5].
Daneben vereinfacht die Semantik die Eingabe von Daten für die einzelnen Prozessschritte, indem sie eine Vorschlagsfunktion bereithält: Will etwa der Nutzer einen Prozessschritt als Unterprozess eines anderen Prozessschrittes definieren, kann sich aber im Moment nicht mehr erinnern, wie der Prozessschritt genau heißt, so genügt die Eingabe von zwei bis drei Buchstaben, und das Programm schlägt eine Auswahlliste von relevanten Prozessschritten vor.
Konsistenz der Inhalte
Die Vorschlagsfunktion und die Möglichkeit, Felder automatisch befüllen zu lassen, kommt nicht nur dem Bedienungskomfort zugute. Vielmehr unterstützt sie auch die zweite oben genannte Anforderung an gutes Prozessmanagement, die Konsistenz der Inhalte. Das System stellt bei der Eingabe Vorschläge für Inhalte zur Verfügung, die an anderer Stelle bereits ins System eingetragen wurden. Die Nutzer klicken auf den richtigen Vorschlag bzw. wählen diesen mit der Eingabetaste aus. Damit ist sichergestellt, dass der Eintrag in derselben Form ins System geschrieben wird, wie er bereits vorhanden ist – ohne Rechtschreibfehler oder abweichende Notationen. Wenn Inhalte in einem Formular verändert werden, werden die entsprechenden Einträge quer durch das gesamte System aktualisiert. Wird zum Beispiel der Familienname einer Mitarbeiterin nach ihrer Hochzeit im System aktualisiert, so werden alle Verweise (Links) auf die Mitarbeiterin vom System automatisch nachgezogen.

Ganzheitliches Prozessmanagement
Auch für die dritte der oben genannten Anforderungen, die Umsetzung eines ganzheitlichen, alle Teile der Organisation einbeziehenden Prozessmanagements, ergeben sich Ansatzpunkte aus der semantischen Technologie. Auch bei der Erstellung von Workflows strukturieren semantische Formulare die Eingabe von relevanten Daten. Die Daten aus den Workflows stehen gleichzeitig in allen anderen Teilen des Systems zur Verfügung und umgekehrt. So kann der Workflow etwa mit dem Prozessmanagement- und dem Ressourcenmanagementsystem gekoppelt werden, das die Verfügbarkeit der einzelnen Mitarbeiter steuert.
Aus der Summe der Workflows und Prozessschritte, in die ein Mitarbeiter involviert ist, kann so eine Übersicht über dessen Auslastung in den einzelnen Stufen eines Produktionsprozesses aggregiert werden. Auch können Workflows automatisch in Kalender- und Projektmanagementapplikationen [6] in Semantic MediaWiki eingebunden werden.
Fazit
Ein umfassendes Prozessmanagement ist mit semantischen Wiki-Technologien also möglich, indem das Prozessmanagement an die „realen“ Steuerungsinstrumente im Unternehmen gekoppelt wird und gewissermaßen mit dem Projektmanagement, den persönlichen Zeitmanagement-Applikationen der Mitarbeiter und den Controllinginstrumenten verschmilzt. Semantisch beschriebene Prozesse sind damit direkt mit dem „Shopfloor“ verbunden und werden wichtiger Bestandteil der „Smart Factory“ [6].
Ein wichtiger Aspekt bei der kollaborativen Erstellung von Prozessdokumentationen ist die Berücksichtigung von Compliance-Anforderungen, insbesondere den Möglichkeiten, unterschiedliche Benutzerrechte zuzuweisen und Seiten einem Freigabeprozess zu unterwerfen. Semantic MediaWiki bietet auch hier eine umfassende Flexibilität bei der Erstellung von Freigabeketten. Neue Freigabeworkflows müssen nicht aufwändig programmiert werden, sondern können durch eine einfache Anpassung des entsprechenden Formulars umgesetzt werden.
Quellen
[1] Kress, Markus: Intelligent Business Process Optimization for the Service Industry. Karlsruhe 2010, S. 12f.
[2] vgl. Kock, Jan-Henning et al., Prozessmanagement 2.0.
http://www.detecon-dmr.com/de/article/prozessmanagement-20_2011_04_20[3] vgl. Striening, Hans-Dieter: Prozeß-Management. Frankfurt a.M. u.a. 1988, S. 203
[4] vgl. Senden, Manfred J. – Dworschak, Johannes: Erfolg mit Prozessmanagement. Freiburg u.a. 2012, S. 15ff.
[5] Brook, Quentin: Six Sigma and Minitab. A complete toolbox guide for all Six Sigma practicioners. 2nd edition. Winchester, UK, 2006, S. 3
[6] http://semantic-apps.com (abgerufen: 2015-08-01)
[7] http://wikiboxx.com (abgerufen: 2015-08-01)
Alexander Gesinn ist Geschäftsführender Gesellschafter der gesinn.it GmbH & Co. KG, einem Spezialisten für semantische Unternehmenslösungen. Zuvor war er als IT-Produktmanager, Leiter der Softwareentwicklung, Prozessmanager und Chief Information Officer für verschiedene IT-Unternehmen tätig.
Dr. Michael Scherm ist seit 15 Jahren in verschiedenen Management- und Beirats-Positionen, hauptsächlich in der IT-Industrie, tätig. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre bei einer internationalen Management-Beratungsfirma.