Die globalen Lieferkettenaktivitäten erholen sich spürbar – der Tradeshift Index of Global Trade Health für das 3. Quartal 2020 zeigt diese Entwicklung deutlich: Ein großer Nachholbedarf löste im Juli einen Anstieg des Auftragsvolumens aus, bevor es im August und September wieder zurückging [1]. Doch ist es schwer vorherzusagen, was als Nächstes passieren wird. Zwar erholte sich die Handelsaktivität, doch eine rasche Rückkehr zum Vorkrisenniveau scheint unwahrscheinlich. Unternehmen müssen mit weiteren Störungen rechnen. Denn der vernetzte Charakter der globalen Lieferketten bedeutet, dass sich kein Land allein vollständig erholen kann. Das gesamte Ökosystem muss in gutem Zustand sein. Im Moment ist das nicht der Fall.
Die so genannte „neue Normalität“ wird wahrscheinlich eine regelmäßige Unterbrechung sein, da veränderte Bedingungen einen Welleneffekt im gesamten Lieferketten-Ökosystem erzeugen. Das DOK.magazin sprach mit Andreas Thonig, Regional VP Sales DACH bei Tradeshift, über aktuelle Entwicklungen und wie die Digitalisierung der Lieferkette und moderne Finanzierungsmodelle für Lieferanten Unternehmen fit für die Zukunft und das neue Lieferkettengesetz macht.
Andreas Thonig, Regional VP Sales DACH bei Tradeshift
Herr Thonig, die aktuelle Lage auf dem Weltmarkt ist und bleibt eine große Herausforderung für das Management von Lieferketten, wenn man sich die Zahlen des letzten Quartals ansieht?
Ja, so ist es. Führungskräfte im Bereich Lieferketten-Management stehen vor der Aufgabe, in den kommenden Monaten ein schwieriges Gleichgewicht zu finden: Einerseits müssen sie ihre Lieferkette vor weiteren Störungen schützen. Auf der anderen Seite müssen sie die Lieferkette so vorbereiten, dass sie die Rückkehr ihrer Unternehmen zum Wachstum unterstützt.
Sie sprechen es direkt an: Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, sich auf Entwicklungen vorzubereiten, die man nicht vorhersehen kann. Gibt es denn Ihrer Meinung nach ein Mittel, damit sich Unternehmen hier besser aufstellen können?
Definitiv: die Digitalisierung. Ich weiß, wir reden bereits seit einigen Jahren davon und viele können es nicht mehr hören. Fakt ist aber, dass es nach wie vor einen immensen Nachholbedarf gibt. Ein aktuelles Beispiel zeigt das deutlich. So ergaben Nachforschungen von AP Moeller Maersk, dass bei der Verschiffung eines Containers von Kenia in die Niederlande über 200 Dokumente zwischen 100 verschiedenen Personen ausgetauscht werden mussten, wodurch ein 25 Zentimeter hoher Papierstapel entstand. Und das war jetzt nur ein Container von wer weiß wie vielen pro Jahr. Da sammelt sich definitiv nach wie vor viel Papier an.
Eindeutig. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Das Verhältnis zwischen Unternehmen und die Art und Weise, wie sie miteinander Handel treiben, hat sich grundlegend verändert. Der globale Charakter moderner Lieferketten bedeutet, dass sich die Beziehungen zwischen Unternehmen von linearen Eins-zu-Eins-Engagements zu komplexen Ökosystemen der Interkonnektivität zwischen Käufern und Lieferanten rund um den Globus entwickelt haben. Aber die Beziehung zwischen Käufern und ihren Lieferanten haben sich hingegen in den letzten vierzig Jahren kaum verändert. Sie ist immer noch stark papierbasiert. Wenn Bestellungen und Rechnungen aber noch via Post oder PDF verschickt werden, entsteht schnell ein Engpass. Ganz zu schweigen von der mangelnden Transparenz Waren und Materialien direkt bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, was nun auch für das neue Lieferkettengesetz wichtig wird.
Unternehmen verschlafen die Digitalisierung ihrer Lieferketten- und Rechnungsprozesse, weil sie denken, mit der Automatisierung sei es getan und sie fit für die Zukunft. Zudem sind Unternehmen noch oft an zu starre Technologie-Strukturen gebunden und jede Abteilung arbeitet für sich.
Können Sie das genauer erklären?
Viele Unternehmen setzen auf Automatisierung. Damit machen sie aber nur den ersten Schritt. Nämlich das Auslesen der Bestell- oder Rechnungsdaten, die via E-Mail oder Fax oder PDF und deren Übertrag ins ERP- bzw. Buchhaltungssystem. Starre Silo-Architekturen im Unternehmen verhindern zudem, dass Bereiche wie z.B. Bestellwesen und Buchhaltung zusammenarbeiten.
Echte Digitalisierung geht aber viel weiter. Sie hinterfragt, ob Prozesse und Software überhaupt noch in dieser Form notwendig sind oder ob es deutlich effektivere Methoden gibt. Es geht darum, neue Ansätze zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen, die Unternehmen und Lieferanten direkt stärker vernetzen und besser zusammenarbeiten lassen. Die Digitalisierung des gesamten Lieferketten-Ökosystems ist hierbei ein bedeutender Schritt. Unternehmen, die ihre Prozesse bereits größtenteils digitalisiert haben, können sich auch besser auf Zeiten der Unterbrechung der Lieferkette vorbereiten.
Unterbrechung der Lieferkette ist ein gutes Stichwort. Sie sprechen in dem Zusammenhang auch gerne von Nassim Nicholas Talebs Konzept der Anti-Fragilität. Was hat es damit auf sich?
Das ist ein sehr interessanter Punkt. Antifragile Lieferketten sind nicht nur stark, sie sind auch formbar, um sicherzustellen, dass sie unabhängig von einer Unterbrechung weiter funktionieren. Aber, was am wichtigsten ist, sie überleben die Unterbrechung nicht nur – sie verbessern sich dadurch.
Um dies zu erreichen, ist es wichtig, dass Unternehmen digital arbeiten. Käufer und Verkäufer müssen digital miteinander verbunden sein. Die Herstellung dieser digitalen Verbindung ist das grundlegende Element für den Aufbau einer anti-fragilen Lieferkette. Sobald dies geschehen ist, können alle Parteien von einem verbesserten Datenzugang profitieren. Entscheidungsträger können einzelne Ausfallpunkte erkennen und sachkundige Entscheidungen darüber treffen, wie mit einer Unterbrechung umgegangen werden soll. Die digitale Zusammenarbeit mit Verkäufern und anderen Parteien im Ökosystem der Lieferkette stellt sicher, dass diese Entscheidungen, einschließlich der Suche nach neuen Lieferanten, schneller umgesetzt werden können.
Nachdem wir viel zum Thema Digitalisierung im Allgemeinen gehört haben, lassen Sie uns tiefer ins Detail gehen. Was würden Sie Unternehmen konkret raten?
Lösungen, auf die Unternehmen vertrauen, sollten einfach zu bedienen und auf der ganzen Welt zugänglich sein. Nur so können alle vom Fortschritt profitieren und die gesamte Lieferkette eindeutig abgebildet werden. Cloudbasierte Software-as-a-Service Lösungen bieten sich hier an, die B2B-Märktplätze abbilden und die Unternehmen und Lieferanten in Netzwerken miteinander verbinden – so, wie es Amazon und LinkedIn machen. Nur eben für Unternehmen und Lieferanten mit Chat-Funktionen, schnellen Bestellprozessen und idealerweise mit der kompletten Rechnungsabwicklung. Solche Lösungen arbeiten heute bereits mit Künstlicher Intelligenz. Nutzer arbeiten mit einem einfach verständlichen Dashboard und können Analysen zu Bedarf, Kapazitäten, Volumen etc. jederzeit in Echtzeit erstellen.
Ein abteilungsübergreifendes Arbeiten wird möglich?
Ja genau. Beschaffung und Buchhaltung arbeiten bereichsübergreifend Hand in Hand: Bestellungen, Rechnungsstellung sowie Finanzierungsmodelle für schnelle Lieferantenbezahlungen können miteinander verknüpft und flexibel genutzt werden. Abstimmungsprozesse laufen deutlich schneller ab.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Finanzierungsmodellen. Können Sie hierzu noch ein paar Worte sagen?
Bei so genannten Early Payment Modellen oder beim Supply Chain Financing (SCF) geht es um das Ziel einer schnelleren Bezahlung von Lieferanten. Auch diese Prozesse können durch Digitalisierung deutlich schneller ablaufen. Es gibt sogar sehr innovative Modelle, die aufgrund der Rechnungshistorie das Ausfallrisiko berechnen und einen Rabatt für vorzeitige Zahlung (Early Payment Discount) festlegen. Lieferanten können, wenn sie es wollen, innerhalb von zwei Tagen unter Einbezug eines Finanzdienstleisters bezahlt werden, während Einkäufer durch den kurzfristigen Kredit von verlängerten Zahlungsfristen zwischen 30 und 360 Tagen profitieren.
Solch ein Programm macht Unternehmen in finanzieller Hinsicht deutlich flexibler und sie sind in der Lage, im Grunde alle Lieferanten mit einzubeziehen und so die Kunden-Lieferantenbeziehung zu stärken, da sie nicht nur die Top-Lieferanten auswählen und andere vertrösten müssen. Damit versetzt es Unternehmen in die Lage, eine stärkere Lieferkette aufzubauen, indem sie Lieferanten Zugang zu einem ständig verfügbaren Cashflow verschaffen.
Lassen Sie uns zum Abschluss noch zum Lieferkettengesetz kommen. Wie schätzen Sie dessen Wirkung ein?
Für eine gerechte Globalisierung müssen wir alle unseren Teil der Verantwortung tragen. Fest steht, dass es dazu mehr Fairness im weltweiten Handel braucht. 80 Prozent des Welthandels gehen über globale Wertschöpfungsketten und sind Existenzgrundlage von über 450 Millionen Menschen. 73 Millionen Jungen und Mädchen sind von ausbeuterischer Kinderarbeit betroffen.
Auf freiwilliger Basis, das hat sich gezeigt, haben zu wenig deutsche Unternehmen ihre Sorgfaltspflicht erfüllt. Wohl auch, weil vielen Groß- und mittelständischen Unternehmen selbst noch nicht ganz klar ist, wie sie das bewerkstelligen sollen. Zum einen sind die Lieferkettenprozesse ja noch immer stark papierbasiert. Zum anderen nutzen Lieferanten zuweilen Sublieferanten für Zwischenproduktionen, von denen der Einkäufer oft gar nichts weiß. Das macht es schwierig, Waren und Materialien direkt bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und über alle Arbeitsbedingungen Bescheid zu wissen. Dieser Mangel an Transparenz ist eines der Haupthindernisse, die Unternehmen überwinden müssen, wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht über die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette nachkommen wollen.
Digitale Plattformen können hier einen wertvollen Beitrag leisten. Denn wenn alle Daten, Informationen und Dokumente digital vorhanden und nachweisbar sind, lassen sich Analysen ziehen, Lieferantenbeziehungen können über alle Sub-Lieferanten-Ebenen nachverfolgt werden. Zusätzlich mit ins Boot geholte Anbieter können direkt vor Ort in den Arbeitsstätten Prüfungen vornehmen und die Ergebnisse ebenfalls mit einfließen lassen. Und Unternehmen können z.B. mit modernen Finanzierungsmodellen Anreize für Lieferanten schaffen, dass diese die Nachhaltigkeitsprozesse bei sich und ihren Sublieferanten vorantreiben.
Herr Thonig, haben Sie vielen Dank für diese ausführlichen Informationen!

Tradeshift ist ein Unternehmen für Supply-Chain-Zahlungen und -Marktplätze. Tradeshift unterstützt Unternehmen, Käufer und Lieferanten bei der Digitalisierung ihrer Handelstransaktionen, bei der Prozess-Zusammenführung und bei der Anbindung an Supply-Chain-Anwendungen. Mehr als 1,5 Millionen Unternehmen in 160 Ländern nutzen die cloudbasierte B2B-Handelsplattform von Tradeshift.
Referenzen
[1] https://hub.tradeshift.com/latest/tradeshift-index-of-global-trade-report-q3