Industrie 4.0 = Synchrones Engineering von Produkt und Information

Photo LR_SWDr. Matthias Gutknecht, Business Development, STAR Group

 

Industrie 4.0 hat sich in den letzten fünf Jahren zu einem der bedeutendsten Wirtschafts- und Technologietrends entwickelt [1][2][3][4]. Zum aktuellen Zeitpunkt ist durchaus noch unklar, wie schnell und umfassend der Industrie 4.0-Trend in den kommenden Jahren umgesetzt wird. Zu den europäischen Vorreitern gehören bereits große Unternehmen wie Bosch und Siemens in Deutschland oder ABB in Schweden. Klar ist, dass damit neue Anforderungen an die Informationsstrukturierung, -verwaltung und -kommunikation gestellt werden: Industrie 4.0 verlangt Information 4.0.

Im Folgenden betrachten wir vier zentrale Anforderungen, die Industrie 4.0 an Information 4.0 stellt. Wir bewerten, inwieweit sie bereits durch Information 3.0 erfüllt werden und welche Konzepte für den Schritt zu Information 4.0 noch fehlen. Als Referenz für Information 3.0 verwenden wir die aktuelle DITA 1.3, die Referenz für Information 4.0 ist die Lösung GRIPS von STAR AG.

Information 4.0 ist individualisierbar

Die erste wichtige Säule des Konzepts Industrie 4.0 ist die vernetzte „Smart Factory“. Diese ist hochflexibel konfigurierbar und verwendet „Internet of Things“-Technologien (Vernetzung von Sensoren, Dingen, Werkstücken, Steuerungen, intelligenten Prozessen etc.), um auftragsgesteuert individuelle, kleinste Produktlose bis hin zu Stückzahl 1 zu fertigen [2][3]: Elektronisch lesbare, an Werkstücken befestigte Tags mit Informationen zur Konfiguration steuern die individualisierte Fertigung. Das Konzept gibt es zwar schon seit einiger Zeit in der Automobilindustrie, in der die Fertigung über die Fahrzeugnummern mit hinterlegter Konfiguration individuell gesteuert wird. Neu ist jedoch, dass eine hochflexible Fertigung auch für günstigere, weniger komplexe Produkte realisierbar wird. Der immer höhere Softwareanteil in Produkten ermöglicht zudem weitere Individualisierungen.

Um die steigende Modellvielfalt und den Trend zur Produktindividualisierung zu bewältigen, muss Information 4.0 entsprechend starke Konzepte für die automatische Individualisierung der Produktinformationen zur Verfügung stellen. Betrachtet man DITA 1.3 (also Information 3.0) unter diesem Gesichtspunkt, sind die DITAVAL-Datei und das DITAVALREF-Konzept für die Individualisierung durch Filterung zuständig (conditional processing). Diese Filtermöglichkeiten (Profiling) in DITA sind für die Individualisierung von Produktliteratur für einfache Produkte ausreichend. Für komplexe Produkte werden in der Serviceliteratur jedoch Dutzende alternativer Produktkomponenten und -optionen unterschieden. Hier werden Redakteure von der Komplexität leicht überfordert und kopieren daher Inhaltsmodule für verschiedene Produktvarianten und -konfigurationen, anstatt generische Inhaltsmodule über Filter und Profiling zu individualisieren. Dies hat zur Folge, dass Wiederverwendungsgrad und Inhaltskonsistenz sinken und die Wartung erschwert wird.

Information 4.0 erleichtert die Individualisierung von Information auch für komplexe Produkte durch die folgenden zusätzlichen Konzepte: Zum einen werden Filtermöglichkeiten mit Booleschen Operatoren (UND, ODER, NICHT) zur Verfügung gestellt. Zum anderen sorgt eine hierarchische Varianten- oder Vererbungslogik dafür, dass Inhalte „vererbt“ werden können. Der Gültigkeitsbereich eines Inhalts ist so über die Variantenlogik definiert und muss nicht mühsam über Attribute und Filterkriterien festgelegt werden. Das Filtern und Profiling beschränkt sich auf die Individualisierung für optionale Komponenten, alternative Zielgruppen und Gültigkeiten für Produktserien (Baustände).

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Information 4.0 ist produktzentriert

Die zweite Säule des Trends Industrie 4.0 ist die virtuelle Fabrik mit virtuellen Produkten zur Vorbereitung der Produktion [2] – ein Konzept, das aus dem seit längerem bekannten Ansatz Computer Integrated Manufacturing (CIM) entstanden ist: Sobald das virtuelle Produkt und seine Komponenten im Engineering System bereitstehen, wird die Produktion virtuell vorbereitet. Jeder Fertigungsschritt wird auf virtuellen Kopien der Fertigungsanlagen simuliert und validiert. Danach werden die Fertigungsdaten in die reale Produktionsumgebung geladen und der reale Produktionsprozess beginnt. In Pilotversuchen für die Automobilteile-Fertigung konnte eine neue Produktion so in drei Tagen statt in drei Monaten vorbereitet werden [2].

Die Beschleunigung der Produktentwicklung und Produktionsvorbereitung durch die virtuelle Fabrik lässt keine Zeit mehr, technische Informationen zu recherchieren und neu zu erfassen. Der Redaktionsprozess muss direkt mit dem Entwicklungsprozess synchronisiert werden. Eine weitgehende Vernetzung der Engineering Systeme (CAD, Product Lifecycle Management – PLM, Softwareentwicklung) mit der Redaktionsumgebung erlauben hierbei einen automatisierten Datenabgleich und die Weiterverwendung von freigegebenen 3D-Modellen, Stücklisten, Spezifikationen, sowie Elementen der Software-Benutzerschnittstelle für die Produktdokumentation. Damit die Redaktionsumgebung die produktzentrierten Inhalte abbilden kann, muss auch Information 4.0 produktzentriert strukturiert und organisiert sein. Am Ende des Tages automatisiert und beschleunigt Information 4.0 den Bereitstellungsprozess für die Produktkommunikation und dessen Synchronisierung mit der Entwicklung.

Information 3.0 hingegen ist mehr dokument- als produktzentriert. Mit DITA 1.3 können zwar Topics/Elemente über das Attribut „Product“ den Produkten und Produktkomponenten zugeordnet werden, es fehlen aber Konzepte für die Weiterverwendung von 3D-Modellen, Stücklisten, technischen Daten (z.B. Anziehdrehmomente, Füllmengen) etc. Diese Informationen sind nicht als separate Single-Source-Informationsmodule vorhanden – ein automatischer Abgleich mit Engineering Plattformen ist damit nicht möglich.

Information 4.0 erleichtert durch stärkere Produktzentrierung die Synchronisation mit Engineering-Plattformen und die Verwendung dieser Informationen in Topics:

  • Durch explizite Modellierung von Stücklisten und 3D-Modellen
  • Durch Abbilden der Beziehungen von Topics und Elementen auf Stücklistenelemente
  • Durch neue Konzepte neben Topics oder als Spezialisierungen von Topics für technische Daten, Materialien, Werkzeuge, etc.

Nur produktzentrierte Informationsstrukturen erreichen eine digitale Durchgängigkeit der technischen Informationsflüsse. Die Informationsbereitstellung wird damit weiter rationalisiert, beschleunigt und vor allem Industrie 4.0-tauglich.

Information 4.0 ist serviceorientiert und bi-direktional

Die dritte und vierte Säule von Industrie 4.0 sind die Verknüpfung von Produkten mit hochwertigen wissensintensiven Dienstleitungen (hybride Produkte) sowie die unmittelbare Einbeziehung von Kunden und Geschäftspartnern in die Produktions- und Geschäftsprozesse. Die Kombination von Produkten mit Dienstleistungen oder – im Extremfall – die Vermarktung von Produkten als Bestandteil einer Dienstleistung stellen höhere Anforderungen an die Serviceinformationen, als dies bei Information 3.0 der Fall war: Wenn ein Produkt nicht mehr verkauft, sondern als Service zur Verfügung gestellt wird, bringt es nur Geld, wenn es möglichst ohne Unterbrechung funktioniert und Werkstattaufenthalte minimiert werden. Dazu werden dynamisch erzeugte Serviceinformationen benötigt: Abhängig von Produktkonfiguration, Nutzungsintensität und zuletzt durchgeführtem Service wird ein individueller zeit- und kostenoptimierter Wartungsplan generiert. Die dafür benötigten Serviceinformationen, der Zeitaufwand, die Verbrauchsmaterialien (Schmiermittel etc.) und Werkzeuge werden automatisch ermittelt und ihre Verfügbarkeit sichergestellt.

Information 3.0 ist hingegen vor allem auf statische Serviceinformationen ausgerichtet. Die mangelnde Produktzentrierung und die Schwächen in der Individualisierung erschweren die dynamische Bereitstellung von optimierten Serviceinformationen für das individuelle Produktprofil. Die Einbeziehung von Kunden und Partnern in die Entwicklungs-, Produktions- und Serviceprozesse im großen Stil bedingt effiziente Feedback-Mechanismen. Unter anderem müssen auch die Nutzung von Anwender- und Serviceinformationen sowie die Häufigkeiten von Fehlerursachen und Reparaturanlässen erfasst werden. Die dazu notwendigen Feedback-Mechanismen fehlen bei Information 3.0 praktisch komplett: DITA 1.3 arbeitet nur in eine Richtung: Richtung Publishing. Es hat keine Konstrukte, um Feedback-Informationen zu erfassen und den entsprechenden Topics zuzuordnen. Es gibt zwar proprietäre Ansätze wie Oxygen WebHelp Feedback; diese sind aber nur rudimentär ausgeprägt und nicht generisch.

Information 4.0 bietet eine bessere Serviceorientierung und Unterstützung einer bi-direktionalen Verarbeitung durch:

  • Dynamische Zusammenfassung und Summierung von Zeiten, Füllmengen, Verbrauchsmaterialien (z.B. Anzahl M4-Schrauben), Werkzeuge etc.
  • Individualisierung von Serviceinformationen – auch in Bezug auf Nutzungsintensität eines Produkts
  • Textuelle und numerische/statistische Feedback-Mechanismen, die Feedback von Endbenutzern im Feld topic- oder elementgenau erfassen und eine weitere Analyse durch Redaktion, After Sales und Engineering erlauben.

Information 4.0 ermöglicht „Digitale Durchgängigkeit“

Zusammenfassend ermöglicht Information 4.0 durch Individualisierbarkeit, Produktzentrierung, Serviceorientierung und Feedback-Mechanismen einen automatisierten, bi-direktionalen Fluss technischer Kommunikation – synchron zum Engineering und zur Produktion von hochindividualisierten Produkten und den sie begleitenden Dienstleistungen. So wird Information fit für die vierte industrielle Revolution.

www.star-group.net

Dr. Matthias Gutknecht, STAR Group. Wer bei neuen Digitalisierungstrends mit dabei sein will, muss Informations- und Sprachprozesse als integralen und synchronisierten Bestandteil von Marketing, Produktentwicklung, Produktion und Kundendienst beherrschen. Mit über 30 Jahren Erfahrung und Standorten in über 30 Ländern zählt STAR zu den führenden Anbietern im Bereich multilingualer Informationstechnologien.

Quellen

[1] Wikipedia-Artikel zu Industrie 4.0: http://de.wikipedia.org/wiki/Industrie_4.0

[2] Roland Berger Whitepaper (März 2014): INDUSTRY 4.0 – The new industrial revolution. How Europe will succeed.

[3] Hartbrich, Iestyn (2014): In der Zukunftsfabrik. In: DIE ZEIT, Nr. 05/2014, 23. Januar 2014, http://www.zeit.de/2014/05/zukunftsfabrik-industrie-4.0

[4] Bundesministerium für Bildung und Forschung (August 2014): Zukunftsprojekt Industrie 4.0