Roland Fesenmayr, Vorstandsvorsitzender der OXID eSales AG
Verfolgt man den aktuellen Meinungsaustausch bezüglich des Dauerthemas Digitalisierung und Industrie 4.0, werden die neuen Chancen oftmals lediglich als Modernisierung der bereits bestehenden IT-Strukturen missverstanden. Dass eine solche Interpretation jedoch viel zu kurz greift und vor allem den Chancen nicht gerecht wird, merken Unternehmen manchmal erst spät.
Marktnischen, die sich für neue Produkte oder Konzepte anbieten, werden daher nicht selten von branchenfremden Newcomern besetzt, die Branchengrößen haben das Nachsehen. Dynamische Startups sind geradezu prädestiniert, etablierten Unternehmen das Heft aus der Hand zu nehmen. So sorgt beispielsweise der Online-Händler Zalando immer noch für Angst und Schrecken: Keiner der bestehenden Filialisten im Schuhsektor verfügte über die Innovationskraft, eine derart bequeme und für den Endkunden in jeder Hinsicht vorteilhafte Plattform zu schaffen. Und sind Marktanteile einmal verloren, können sie nur schwer zurückgewonnen werden.
Vernetzte Strukturen setzen neue Maßstäbe
Den verschiedenen Vertriebskanälen kommt im Wettlauf um Anteile an neu entstehenden Märkten eine besondere Rolle zu. Nach fast 20 Jahren steht auch die eCommerce-Branche vor zahlreichen entscheidenden Entwicklungen und Veränderungen. Denn Endkunden erwarten bereits seit langem ein funktionierendes Basisangebot in Form eines Webshops. In welcher Form dieser allerdings den Kunden anspricht – das ist ein wesentlicher Bestandteil der Zukunft. Die Prozesse im Hintergrund sind dabei das grundlegende Fundament von Industrie 4.0 und der digitalen Transformation.
Im globalen Wettlauf hat das Tempo deutlich angezogen, und zwar auf hochtechnisiertem Level – symbolisiert durch die mit dem Handy steuerbare Produktionsmaschine, die auf der heutigen Stufe der Digitalisierung nicht mehr nur Projektion, sondern bereits Realität ist. Mobiles Shopping und volles Informationsangebot an jedem Ort und zu jeder Zeit sind ebenso selbstverständlich. Digitalisierung durch Vernetzung erzeugt komplexe Mensch-Maschine-Interaktion und setzt neue Maßstäbe für Effizienz und Endkundennutzen.
Modernisierung betrifft nicht nur IT
Um Schritt zu halten, ist es daher mit der Modernisierung bestehender IT-Systeme alleine nicht getan. Vielmehr ist eine vorausschauende Geschäftsstrategie gefragt. Bei der Verankerung und Einführung neuer Produkte kommt den Vertriebswegen eine besondere Rolle zu. Dort entsteht der direkte Kontakt zu den Abnehmern und der Verkäufer trifft auf die Wünsche und Erwartungen der Kunden – erfüllte und unerfüllte. Und am Ende des Tages entscheidet der Kunde über Erfolg und Misserfolg der Händlerstrategien – Umsatz und Absatz sind die Messgrößen.
Schon in der Vergangenheit war der eCommerce Motor für neue Geschäftsmodelle – und er wird diese Rolle weiterhin übernehmen. Denn im Zeitalter von Industrie 4.0 und CPS-Systemen werden Vertrieb, stationärer Handel, Online-Handel und Produktion nicht mehr voneinander getrennt existieren können, sondern ein großer Systemzyklus sein. Wenn die digitalen Absatzwege des eCommerce direkt mit der Produktionshalle verbunden sind, kann das Auslösen einer Order die Produktion anstoßen. Oder Kundenfeedback fließt direkt in die Produktion ein. Nicht nur hinsichtlich kontinuierlicher Optimierung, sondern auch in Form von individualisierten Produkten, die „on demand“ hergestellt werden.
Produktion mit direktem B2B-Vertrieb wird zur Option
Auch für die Industrie bergen diese digitalen und damit sehr automatisierten Prozesse eine immense Chance: Konzerne können künftig – wenn die richtigen technischen Mittel eingesetzt werden – für Endkunden oder kleine Unternehmen direkten Verkauf über einen angepassten B2BWebshop anbieten. Erste Unternehmen nutzen diese Chance bereits und haben die nötigen Prozesse und Werkzeuge implementiert. Entscheidend ist die Effizienz, mit der die Technologie die früher nicht profitablen Schritte einer Bestellung mit kleiner Losgröße digitalisiert und damit kostendeckend abbildet.
Bei der Auswahl eines Shopsystems ist die Anbindbarkeit an ERP-Lösungen entscheidend, und auch die technische Belastbarkeit. Der Verkauf an B2B-Kunden erfordert andere Prozesse mit Volumenverträgen, kundenspezifischen Rabattmodellen und anderen Herausforderungen. Manch übliches System, das im B2C-Bereich erfolgreich genutzt wird, geht aufgrund der bloßen Anfragemenge von SQL-Requests in die Knie. Und Geschwindigkeit – also auch das Einkaufserlebnis, das der Nutzer aus dem B2C gewohnt ist – ist wichtig für die Akzeptanz und Kundenbindung. Shopstopper finden nicht nur bei Endkunden, sondern auch beim Gewerbekunden statt.
Digitalisierung gelingt nur Schritt für Schritt
Heute ist es keine Überraschung mehr, dass ein Internetkonzern wie Google ein selbstfahrendes Auto präsentiert, oder ein kleines kalifornisches Startup plötzlich zum weltgrößten und hippsten Anbieter von Elektrofahrzeugen wird. Die Hersteller haben einige Aufgaben vor sich, denen sie sich stellen müssen:
Wertschöpfung ausloten und in neuen Produkten denken
Hierzulande ist das Hamburger Startup Skybus eines dieser Unternehmen, das 2015 mit seiner Lösung eine Lücke der Industrie 4.0 besetzt hat. Um die Kommunikation zwischen Software und Maschinen zu erleichtern, oder zum Teil überhaupt erst zu ermöglichen, entwickelte Skybus ein Cloud-Toolkit für Übersetzung und Informationsaustausch. Die herstellerunabhängige Kommunikationsplattform bringt Maschinen- und Softwarehersteller zusammen, ein Pilotprojekt mit der Sick AG wurde bereits realisiert, ein weiteres mit Siemens ist zurzeit in Arbeit. Solche Marktlücken könnten auch etablierte Firmen entdecken und schließen, wenn sie strategisch verankerten Raum für Forschung und Entwicklung kontinuierlich für die Auslotung neuer individualisierter Produkte nutzen.
Intelligente Produktion mit modularen und flexiblen Systemen
Eine Schlüsselerkenntnis aus der Erforschung neuer Marktfelder anhand von Use Cases ist die Einsicht, dass im Industrie 4.0-Umfeld von Beginn an auf ganzheitliche Produktionssysteme gesetzt werden muss. Benötigt werden modulare Systeme, die trotz aller Komplexität flexibel bleiben. Sie ermöglichen Automatisierung und Cloud-basierte Selbststeuerung nicht nur für bestehende Produktgruppen, sondern auch für künftige, heute noch nicht bekannte Produkte. Für die Umsetzung sind hohe Softwareentwicklungskompetenzen absolut unerlässlich. Sie müssen mit entsprechender Sorgfalt geplant und kontinuierlich ausgebaut werden. Das gilt sowohl für die Kapazitäten aller involvierten Bereiche im eigenen Unternehmen als auch für die Wahl erfahrener Lieferanten und Partner, die mit derselben Konsequenz den Wandel zu Industrie 4.0 mitgestalten wollen.
Qualität und Kontinuität der Software-Entwicklung
Ob intern oder über externe Partner: Industrie und IT rücken in der nächsten Entwicklungsstufe eng zusammen. Dabei treten sie in noch stärkere gegenseitige Abhängigkeit. Für Prozess- und Produktentwicklung ist Flexibilität im Sinne von strategischer Offenheit von unschätzbarem Wert – Offenheit gegenüber neuen Märkten, Offenheit gegenüber sich schnell wandelnden Geschäftsmodellen und in der Produktion bzw. im Ausbau der IT-Landschaft, Offenheit gegenüber einer Vielfalt von cyber-physischen Systemelementen. Eine entsprechende Weitsicht bei neuen Geschäfts- und Vertriebsmodellen ist daher auch in der IT-Architektur und von allen verwendeten Systemen gefordert.
Fazit
Die vierte industrielle Revolution wird Folgen haben. Sie bringt Produkte, Services und Geschäftsmodelle hervor, die bei aller Sorgfalt und Fantasie heute noch nicht absehbar sind. Die Anpassung der Geschäftsstrategie bleibt ein Dauerthema. Wer heute Gabelstapler baut, kann auch eine passende Software für deren führerlosen Betrieb und die Intralogistik in Lagerstätten anbieten. Künftiges Potential kann je nach Geschäftsmodell aber auch für Industrieunternehmen im Endkundenmarkt liegen. Im Dezember 2015 kündigte ThyssenKrupp den Launch europäischer Onlineshops an, darunter einer für Stahl, Kunststoff- und Aluminiumprodukte, der sich an Endverbraucher und Kleinabnehmer wendet.
Industrie 4.0 oder die digitale Transformation vernetzt also nicht nur Systeme und Maschinen – sondern Wertschöpfungsprozesse, Unternehmen und Märkte. Die Folgen sind kaum absehbar. Herr über Märkte und Marktanteile wird aber nur der sein, der frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat und sein eigenes Geschäftsmodell rechtzeitig digital transformiert.
Roland Fesenmayr Vorstandsvorsitzender der OXID eSales AG. Die OXID eSales AG gehört zu den führenden Anbietern von eCommerce-Lösungen und Dienstleistungen. Auf Basis der OXIDPlattform lassen sich skalierbare, modulare und hochwertige Webshops in allen Branchen, für B2B ebenso wie für B2C, aufsetzen und effizient betreiben.