DOK.Diretissima I Digital Marketing: Kopf und Zahl

Marcus Bond, Digitalurgestein und leidenschaftlicher Business-Kommunikator, befragt für uns in jeder DOK.Ausgabe eine bekannte Persönlichkeit zu Themen, die aktuell bewegen.

 

In dieser Ausgabe:

 

Dr. Jochen Kalka, war rund 20 Jahre Chefredakteur beim Süddeutschen Verlag (W&V), ist Medienkenner und heute im Management der Agentur schoesslers,

 

 

und

 

Dr. Christian Bachem, Geschäftsführer der Strategieberatung MARKENDIENST in Berlin und einer der profiliertesten Experten für Digitales Marketing und Werbewirkung.

 

 

Kopf oder Zahl?

Kopf und  Zahl!

 

„Beim Digital Marketing geht es, wie immer, um beide Seiten einer Medaille: Zahlen können hilfreich sein, um Menschen und ihre Interessen mit Angeboten zu matchen. Zahlen können aber auch die größte Lüge sein.”

Die Welt ist Corona-verzerrt im Umbruch. Wir Konsumenten werden mit markt-schreierischen Nullen und Einsen nur so überflutet. Weder POS noch die neuen Digital- und Hybrid-Events locken uns in Scharen. Und in der Endlosschleife an Video-Calls sehnen wir uns nach Team-Spirit und echtem Wir-Gefühl. Wie kann man Kunden erreichen und Mitarbeiter beglücken? Was macht Wumms und aktiviert?

Marcus Bond: Eine aktuelle Studie unter 8.200 Marketers aus 37 Ländern hat ergeben, dass seit Beginn der Pandemie 60 Prozent der Interaktionen zwischen Verbrauchern und Unternehmen digital verlaufen – im Vergleich zu nur 42 Prozent vor der Pandemie [1]. Das ist eine enorme Steigerung um rund 50 Prozent. Ist Digital das Maß der Dinge geworden, um Kunden zu erreichen?

Christian Bachem: Digital ist vielleicht nicht das Maß, aber tatsächlich das Muss aller Dinge geworden. Corona hat in kürzester Zeit auch den hartnäckigsten Skeptikern gezeigt, dass es ohne digitale Angebote nicht geht. Und zwar in nahezu allen Lebensbereichen. Mit Blick auf Kundenbeziehungen ist das Internet für viele Unternehmen notgedrungen zum digitalen Rettungsanker geworden. Ob dieser allerdings dauerhaft hält, ist fraglich. Denn die massiv beschleunigte Adaption bei digitalen Spätstartern, sowohl seitens der Unternehmen als auch der Kunden, hat den Wettbewerbsdruck im Markt stark erhöht.

Es gibt deutlich mehr E-Commerce- und Multichannel-Player, die um Kunden buhlen, als noch vor einem Jahr. Dies hat bereits zu steigenden Preisen im Online-Werbemarkt geführt. Zwar wurde, nicht zuletzt durch veränderte Nutzungsgewohnheiten, das Anzeigeninventar u.a. bei TikTok, Instagram, YouTube und Twitch deutlich ausgeweitet. Doch die stark gestiegene Nachfrage nach attraktiven Werbeplätze treibt die Preise. Unternehmen müssen mehr denn je die Spreu vom Weizen trennen, zumal insbesondere im Digitalen billiger Werbeplatz allzu häufig seinen Preis hat.

Marcus Bond: Ich nehme Werbung am ehesten über Plakate wahr, sowie über digitale und gedruckte Fachmedien. Lineares TV schau ich nicht. Im Radio schalt ich beim Werbeblock schnell weiter. Und digital habe ich einen Werbefilter im Hirn aktiviert. Bin ich werbemäßig ein Sonderfall? Und wie gut kann man Kunden noch über die klassischen Kanäle wie TV, Print, Out of Home, Radio erreichen?

Christian Bachem: Das ist beileibe kein neues Phänomen. Über tatsächliche oder behauptete Werbeverweigerung wurde schon vor bald vierzig Jahren trefflich diskutiert, als das Internet noch ein akademischer Zettelkasten war. Vielen Unternehmen wäre schon sehr geholfen, wenn sie ihre Zielgruppe realistisch beschreiben und sauber definieren würden. Häufig haben Produktmanager und Marketer eine idealisierte Vorstellung von der tatsächlichen Nutzerschaft ihrer Produkte. Ein Beispiel: Mit der Einführung der A-Klasse wollte Mercedes seinerzeit die Marke verjüngen. Die Käufer waren allerdings im Schnitt beinahe 20 Jahre älter als gedacht. Heute ist ein Leichtes, vor einem Produktlaunch festzustellen, wer tatsächlich Zielgruppe für ein neues Produkt ist. Man findet insbesondere in den Sozialen Medien sehr schnell belastbare Aussagen, welche Kanäle die Zielgruppen nutzen, welche Themen sie umtreiben und wie sie ticken.

Marcus Bond: Ihr bietet diesen Service, also die datenbasierte Markenführung, ja auch für Kunden an. Was kann man in Facebook, Instagram etc. über die Nutzer erfahren? Was sind die Vorteile?

Christian Bachem: Oh, das angemessen zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen. Also versuche ich es kurz: Google und Social Media bieten den immensen Vorteil, dass man darüber die Menschen gut analysieren kann. So lässt sich beispielsweise ermitteln, mit welchen Themen die eigene Marke assoziiert wird, welche Relevanz diese haben und ob sie im Trend liegen. Man erfährt, welche Inhalte die eigene Marke aus Sicht der Menschen exklusiv besetzt und wie nahe einem die Wettbewerber in anderen Themenfeldern kommen bzw. welche von ihnen dominiert werden. Hieraus lassen sich sehr wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die sowohl strategisch als auch taktische für die Markenführung und Kampagnenplanung genutzt werden können.

Dazu ein Beispiel: Ein Hersteller von Gartengeräten möchte einen Roboter-Rasenmäher und ein automatisches Bewässerungssystem auf den Markt bringen. Die Vermutung ist, dass insbesondere gestresste Berufstätige mit höherem Einkommen die Kernzielgruppe bilden. Doch das digitale Ohr am Markt belegt das Gegenteil: Ausgerechnet diese Menschen möchten im Garten selbst Hand anlegen, weil sie dabei abschalten und das Ergebnis ihrer Arbeit sofort sehen können. Hätte das Unternehmen seine Marke wie ursprünglich geplant positioniert und die Einführungskampagne entsprechend ausgerichtet, wäre die Saat nicht aufgegangen.

Marcus Bond: Daten aus der digitalen Welt können Unternehmen also schon von der ersten Produktidee an dabei helfen, sich erfolgreich auf die Kunden einzustellen. Und für eine optimale Omnichannel-Experience sind sie eh unverzichtbar. Also den Blick weiter auf die Dashboards, KPIs und digitale Kampagnen fokussieren? Jochen Kalka plädiert dafür, nicht zu zahlengläubig zu werden und es in der Kommunikation wieder mehr menscheln zu lassen, richtig?

Jochen Kalka: Genau: Zahlen können hilfreich sein, um Menschen und ihre Interessen mit Angeboten zu matchen. Die von Christian Bachem angesprochene datenbasierte Markenführung zeigt ja bestens, wie gut man Erkenntnisse aus Social Media-Daten gewinnen kann. Zahlen können aber auch die größte Lüge sein. Sie werden für sämtliche Zwecke gebraucht und missbraucht. Wir alle buhlen um Visits, Page Impressions, Reichweiten, Auflagen, Quoten und manch Mediaplaner mixt es zu einem schwachsinnigen KPI-Cocktail zusammen. Klar, an Zahlen kann man sich orientieren. Schwache Marketingentscheider klemmen sich an jede einzelne Ziffer, verstecken sich hinter einem möglichst undurchschaubaren Zahlenwerk, um sich selbst abzusichern.

Doch mit der reinen Zahlengläubigkeit scheitert am Ende jede Kommunikationsmaßnahme. Denn hinter jedem Unternehmen stecken Menschen mit ihren Ideen und hinter jedem Produkt stecken Experten, die es mit ihrem Wissen entwickelt haben. Darauf sollte man in der Kommunikation fokussieren. Zahlen sind austauschbar, Menschen sind es nicht. Zahlen sind Kontroll-Verlust, Menschen sind Vertrauen.

Marcus Bond: So wie bei den Hipps? Wenn Senior Claus und sein Sohn Stefan sagten „Dafür stehe ich mit meinem Namen.“, dann hat man ihnen geglaubt, dass sie die Qualität ihrer Babyprodukte sehr ernst nehmen. Das hat dann auch den Umsatz beflügelt.

Jochen Kalka: Oh ja, Hipp ist natürlich ein Klassiker, ein tolles Beispiel. Aber so auf eine Persönlichkeit zugeschnitten muss man als Unternehmen gar nicht agieren, um den Menschen in den Vordergrund zu stellen. Jeder Bäcker oder Metzger hat früher einfach seinen Namen über seinem Laden angebracht. Jeder Siemens und Daimler bürgte mit seinem Namen, auch als das Unternehmen noch klein war. Selbst in einem Haribo oder Adidas stecken die Gründernamen. Aber nenn‘ mir mal ein Startup, das den Namen der Gründer trägt. Wieso wagt es niemand mehr, den eigenen Namen, die eigene Persönlichkeit als Vertrauensbeweis einzusetzen? Bei vielen neuen Brands denke ich, dass sie von einem Markennamen-Generator ausgespuckt wurden

Aber es muss nicht einmal der Gründer oder die Gründerin als Gesicht des Unternehmens prominent im Mittelpunkt stehen. Jedes Unternehmen, sei es noch so klein, hat Experten in dem jeweiligen Fachgebiet, ganz gleich, ob es um Sensoren, Schrauben oder Sägen geht. Wie wirbt die FAZ seit Jahrzehnten? „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.“ Das gilt für jede Firma. Genau mit diesen Experten als menschlicher Faktor sollten Unternehmen kommunizieren. Ihr Wort hat Gewicht, ihr Wissen macht Kommunikation. So einfach ist das.

Marcus Bond: Okay. Aber wie kann man Chefs gezielter ins Rampenlicht stellen und Fachexperten als Influencer einsetzen?

Jochen Kalka: Wir unterscheiden zwischen der CEO-Positionierung und dem Expert Positioning. Den oder die CEO kann man leicht über die strategischen Inhalte eines Unternehmens in den Medien platzieren. CEOs stehen für die Ausrichtung, die Werte einer Firma. Sie stehen aber auch als Unternehmer für die Macher in einer Region oder einer Branche. Sie sind Wegweiser und Orientierung. Ihre Stimme ist gefragt. Hier darf auch mit Meinung kommuniziert werden. Je stärker die Meinung, desto stärker zahlt es auf die Persönlichkeit und damit auf das Unternehmen ein.

Die Fachexperten erklären ihre Produkte. Sie kennen den Motor von innen, sie wissen, wie Gummibärchen entstehen oder wieso gewisse Impfstoffe in welcher Form wirken. Das lässt sich bestens mit unserem ausgeprägten Wissensdurst matchen. Wir alle lieben Erklärungen, Begründungen, wir neigen alle dazu, selbst klugschwätzen zu wollen. „Expert Positioning“ funktioniert über Gastbeiträge in Fachpublikationen ebenso wie in Form von Listicles, also etwa: Fünf Gründe, wie eine Batterie doppelt so lange hält … Um noch ein greifbares Beispiel zu nennen: Studien bestehen aus Zahlen. Wenn aber ein Unternehmer unter seinen Experten oder gar Kunden eine Umfrage macht, hat er neben Fakten im Idealfall auch noch authentische Aussagen. Die sind wärmer, emotionaler. Für Medien definitiv der spannendere Stoff. Ergänzend sollten auch die sozialen Medien als bespielbare Plattform menschelnder Kommunikation erwähnt werden. Je weniger statisch CEOs oder Experten dort etwas äußern, desto greifbarer wird ihre Meinung. Hier liegen großartige Chancen.

Marcus Bond: Unternehmen sollten sich also ‚menschlicher‘ präsentieren. Gilt das auch für die interne Kommunikation?

Jochen Kalka: Man sollte auch die Mitarbeiter nicht vergessen, ihr Wir-Gefühl. Aufgrund der Pandemie-bedingten Bürosituation braucht es Alternativen, die sie ansprechen: virtuelle Kaffeerunden, spontane Teams-Anrufe für Klatsch und Tratsch, freiwillige Spieleabende am Screen, das Pizza-für-alle-Essen, das nach Hause oder sonstwo hin geliefert wird. Ein Unternehmen bietet all seinen Mitarbeitern beispielsweise an, vom neuen Fun-Firmensitz in Ibiza aus zu arbeiten. Dann trifft man sich eben dort. Auch das ist der menschliche Faktor. Ibiza in Zahlen ausgedrückt will keiner hören, oder? Ein Kollege trifft sich mit seinem Kunden zum Planungsgespräch nicht mehr im Konferenzzimmer, sondern zum Wandern in den Bergen. Warum nicht? Hier wird der Kopf frei! Solche Aktionen sprechen sich herum und eröffnen herausragende Chancen das für Employer Branding. Wenn ein Unternehmen genau diese Dinge kommuniziert, hat es keinen Fachkräftemangel mehr.

Marcus Bond: Also mehr Kopf, weniger Zahl?

Jochen Kalka: Definitiv mehr Kopf! Vergesst mir die Seele nicht, sagte einst Sebastian Kneipp, vergesst mir den Menschen nicht, der Markentechniker und Verleger Wolfgang K.A. Disch. Wer den Menschen in den Mittelpunkt seiner Kommunikation stellt, wird es am Ende auch in den Zahlen positiv wahrnehmen können. So wird aus Kopf am Ende Zahl.

Christian Bachem: Kopf oder Zahl? Für mich ist das kein Gegensatz. Es geht immer um Kopf und Zahl, also beide Seiten der Medaille. Ohne Erfahrung und menschliche Intelligenz lassen sich Zahlen und Daten weder einordnen noch sinnvoll nutzen. Dies haben viele Experten im Marketing, die sich aktuell im Trend wähnen und voll auf KI und algorithmische Steuerung setzen, entweder noch nicht verstanden oder nicht verinnerlicht.

Marcus Bond: Herzlichen Dank Herr Kalka und Herr Bachem für dieses hochinteressante und spannende Gespräch!

Vortrag von Jochen Kalka bei der der Online Fokus Konferenz Marketing

23.11.2021  9:00 Uhr – Keynote: Die Kraft des Menschen in der digitalen Welt

Anmeldelink: https://online-fokus-konferenz.com/marketing/anmeldung/

www.schoesslers.com  Die Kommunikationsagentur schoesslers wurde 2011 in Berlin von Prof. Dr. Julia Schössler gegründet. Das 55-köpfige Team betreut nationale und internationale Kunden aus der digitalen Wirtschaft in den Bereichen Technologie, Medien und Advertising. Seit 2016 ist die Agentur Teil der Würzburger Vogel Communications Group, einem der führenden Dienstleister für B2B-Kommunikation im deutschsprachigen Raum mit über 100 Medienmarken, digitalen Plattformen und Events. schoesslers wurde mehrfach in Arbeitgeber-Rankings ausgezeichnet, u.a. vom PR Report und von Focus Business. Zu den gut 60 Kunden zählen Yahoo, RMS, esome und Samsung.

www.markendienst.com   MARKENDIENST Berlin ist eine etablierte Strategieberatung für datenbasiertes Marketing. Die MARKENDIENST-Berater verbinden Marketing-, Digital Media- und Analytics Know-how auf höchstem Level – und liefern Werbungtreibenden belastbare Insights für die Gestaltung des optimalen Media Mix und einer wirkungsstarken Zielgruppenansprache. Die Analysen und Empfehlungen unterstützen Marketing- und Media-Entscheider dabei, ihre Maßnahmen, Ressourcen und Prozesse konsequent auf Wirkung und ROI auszurichten. Zu den Kunden zählen bekannte Marken wie FitX, Hornbach, REWE International, Sanofi und Sparkasse.

Referenzen

[1]              7. Ausgabe des Salesforce State of Marketing Reports: https://www.salesforce.com/de/blog/2021/09/state-of-marketing-2021.html