„… weil jedes neue Problem ein neues Produkt oder eine neue Geschäftsidee ist.“
Marcus Bond, Digitalurgestein und leidenschaftlicher Business-Kommunikator, befragt für uns in jeder DOK.Ausgabe eine bekannte Persönlichkeit zu Themen, die uns aktuell bewegen.
Es geht gleich rockig los mit Dietmar Dahmen: Zukunftsforscher, Transformationsexperte, Blockchain-Startup-Gründer und seit Jahren ein angesagter Keynote-Speaker.
Dauer-Lockdowns, gefühlter Stillstand und extreme Unsicherheit auf der einen Seite – Wachstum, Höchststände an den Börsen, ungebremster Wandel auf der anderen. Wie passt das zusammen? Welche Chancen bietet Corona für den Einzelnen und Unternehmen?
Marcus Bond
Du hast letztes Jahr in 50 Live-Talks mit über 100 Unternehmern über ihr Business während Corona gesprochen. Darunter waren viele Chefs schwer gebeutelter Firmen aus Gastronomie, Tourismus oder Einzelhandel. Was ist dein Résumé, was rätst du?
Dietmar Dahmen
In Mathe lernten wir die Glockenkurve, die Gaußsche Normalverteilung. Langsam hoch, langsam runter. COVID brachte die Wile-E.-Coyte-Kurve: BAMM – ZACK – RADIKALER ABSTURZ – so wie es dem Koyoten bei den Roadrunner-Filmen dauernd passiert.
Und dann wollten alle das gleiche: Wieder dahin zurück , wie’s vorher war. Die Strategie hieß: HOFFEN. Hoffen, dass es bald vorbei ist. Hoffen, dass Corona schnell weg geht. Aber wir alle wissen: Hoffen ist das Resultat machtloser Verzweiflung. Hoffen ist keine Strategie! Hoffen kann man beim Glücksspiel, aber nicht im Vorstand!
Aber: Am Ende nutzten wir doch noch das Chaos! Chaos ist ja super!
Wie das?
Wer Kinder hat , kennt Lego. Und wer mit Lego spielt, weiß: am ANFANG kippt man die Kiste um, der ganze Boden ist voll: Chaos! In diesem Moment die JEDE FORM, die aus den Steinen baue gleich wahrscheinlich. Ich kann ein Haus bauen, ein Raumschiff, einen Hund. Ich nennen diesen chaotischen Zustand: QUANTUM CREATIVITY! ALLES GEHT! Auch im Corona-Chaos ging plötzlich alles: Fußball findet ohne Zuschauer statt. Arztbesuche gehen per Video. Eltern werden Lehrer. Die Formel-1 stellt Beatmungsgeräte auf ihren 3-D-Druckern her.
Sobald ich also etwas Spezifisches realisiere, ist das Chaos vorbei. Die Steine liegen nicht mehr überall herum. Die Legos kommen zusammen. Die Idee wird dichter. Das reduziert die Quantum Creativity schlussendlich auf eine BINÄRE KREATIVITÄT: Ist es ein Haus? Ja oder nein. Klappt das Beatmungsgerät: JA oder NEIN. Bin ich ein guter Lehrer: JA oder NEIN. Alles wird wieder eng. Binär, eben.
Seine Business-Kisten auskippen, Neues wagen, das braucht natürlich Mut. Es gab ja Einige, die während Corona mit Innovationen an den Start gingen. Zum Beispiel Disney: Filmproduktionen werden reihenweise abgesagt. Parks, Resorts, Kinos müssen schließen. Ein guter Schachzug, da das Entertainment mit einem Streaming-Dienst zu den Menschen nach Hause zu bringen.
Ja, klar. Die Frage ist immer WIE NEU ist das, was ich mache? Und das hängt oft davon ab, wie groß das Problem ist, das ich lösen muss. Kleine Probleme, löst man mit kleinen Ideen. Man hübscht zum Beispiel das Corporate Design auf, um moderner zu erscheinen, mehr nicht. Große Probleme löste man mit großen Ideen: man entwickelt zum Beispiel den ersten mRNA-Impfstoff, so wie Moderna und BioNTech/Pfizer das gemacht haben: MEGA IDEE! Und macht dann alles drumherum richtig schnell. Man fällt nicht in die ANALYSE PARALYSE … hier noch eine Marktforschung, da noch durch ein Gremium und externe Berater absichern, sondern BAMM RUCK ZUCK MACHEN.
Verzweiflung verwandelt man am besten in MUT! So wie Bruce Banner bei Verzweiflung zum HULK wird. Bruce Banner ist harmlos. Der HULK kann aber alles!
Mir scheint, dass eher wenige Unternehmen auf HULK umgeschaltet haben. Hotels oder Ferienanlagen zum Beispiel: Hätten die nicht viel stärker vom Homeoffice-Trend profitieren können? Safes Arbeiten in der Anlage, mit Zeitfenster und Abstand im Pool planschen und Essenslieferung aufs Zimmer. Es gab ja nur vereinzelt Anbieter, die sowas geboten haben. Wie lässt sich ein disruptiver Geist verankern und schnell mit neuen Lösungen auf die Straße bringen?
Am besten in drei zeitlichen Stufen, Tipp:
Kurzfristig, also heute: Selbst wenn der Laden läuft: Fühlen SIE sich in Ihrem Unternehmen, in Ihrer Branche und in Ihrem Job NICHT SICHER. Entwickeln Sie aus einem Gefühl des Bedrohtseins eine Motivation, Wesentliches zu ändern. Beispiel Staubsaugerfabrikant: »Lasst uns einen Saugroboter bauen!«
Mittelfristig: Finden Sie das Grundlegende, was Ihr Unternehmen KANN. Das, wo Sie unschlagbar sind. Überlegen Sie, was Sie mit dieser Kompetenz noch machen können. Beispiel Staubsaugerfabrikant: »Wir können Sachen bauen, die Luft saugen oder pusten.« Also können wir auch Handtrockner, Abzugshauben und – tuschel-tuschel – ja vielleicht auch neuartige Sextoys bauen (dann vielleicht unter einer eigenständigen Marke). Suchen Sie dafür nach NEUEN strategischen Partnern und Geschäftsmodellen.
Langfristig: Irgendwann wird jeder Markt disruptiert! Überlegen Sie sich, was ein ANDERER tun kann, um Ihren Markt zu vernichten. Dabei kommt man auf die besten Ideen. Wenn Sie es wissen: Tun Sie es selbst!
Und am besten mit möglichst vielen Superhelden an Bord. Leute, die Silos aufbrechen oder sprengen wollen! Menschen, die zaghaft mit der Feile kommen, weil die Anschaffung vom System XY ja auch total teuer war und sich erst amortisieren soll, können heute echten Schaden anrichten. Sicherheitsdenken ist gefährlich! Am Alten festzuhalten ist gefährlich!
Unterm Strich ist das doch eine Frage der Einstellung. Und ob Innovation und eine Fehlerkultur gewünscht und gefördert oder sanktioniert werden. Gute disruptive Ideen kommen ja oft aus den Fachabteilungen und nicht unbedingt vom Vorstand oder den Beratern.
Jeder im Unternehmen sollte einen Zerstörungswillen haben und sich nicht auf dem gemütlichen Status-Kissen ausruhen. Nimm mal den IT-Leiter in einem Garagentor-Unternehmen. Macht er sich Gedanken über die mittlere und langfristige Zukunft des Unternehmens? Und wie trägt er bei, diese zu meistern? Es gibt beispielsweise den Trend zur Individualisierung. Individuell bedruckte Garagentore online anzubieten wäre ein echter geschäftlicher Vorteil. Dafür müsste aber eine Menge geändert werden: Ein E-Commerce-System samt Online-Konfigurator müsste her und mit dem Backend verbunden werden. Die Lackiererei müsste prozesstechnisch anders integriert werden. Es müssten neue Experten eingestellt, neue Systeme implementiert und neue Prozesse eingeführt werden. Dahinter stecken eine Menge „NEIN, das geht nicht“-Wände. Es kostet Kraft, diese zu zerschlagen. Aber es ist auch unglaublich motivierend, damit etwas elementar und am besten im Team zu verändern. Das IT-Team kann etwas elementar Wichtiges anstoßen, anstatt nur das Bestehende am Laufen zu halten.
Klar, man muss durch die Wand. Aber WÄNDE SIND FREUNDE! Hinter der Wand ist das Neue! Vor der Wand passiert nur das Alte. Mein Tipp: SUCHE DEINE WÄNDE! Jede Wand ist die Chance besser, neuer, mutiger zu werden!
Viele sehen Probleme per se ja als negativ. Man möchte ihnen aus dem Weg gehen. Du stellst ein Problem ins Zentrum neuer Geschäftsideen.
Ja, Probleme sind geil! Probleme helfen, Ideen zu schärfen. Wie zum Beispiel: „Ich will ein individuell bedrucktes Garagentor“. Oder nehmen wir mal ganz schnöde einen Hersteller von Schuhen. Seine Schuhinnovation wird sich ohne ein neues Problem immer in gewohnten Bahnen bewegen: Stoffe, Formen etc.
Aber jetzt fügen wir ein Problem dazu: Entwirf einen neuen Schuh für Blinde!
Wahrscheinlich bringt ihn das zusätzliche PROBLEM auf neue Ideen, mit denen er auch andere Produkte besser machen könnte. Ein digital vernetzter Schuh, der dem Schuhträger per Vibration anzeigt, wo er JETZT abbiegen muss, um von A nach B zu kommen, ist beispielsweise für Blinde genauso geeignet wie für Jogger, die eine neue Strecke ausprobieren wollen, oder für Städtereisende (BZZZ … hier rechts … BZZZ … jetzt links).
Tipp: Addieren Sie also »Probleme« zu Ihrem Produkt/Service. Und dann: Lösen Sie diese. Wie muss sich Ihr Produkt/Service ändern? Welche anderen Situationen können Ihre Kunden dann meistern? Jedes neue Problem ist ein neues Produkt oder eine neue Geschäftsidee.
Die Blockchain-Technologie und die Dezentralisierung gehen derzeit in vielen Bereichen ordentlich ab. VR dagegen scheint nicht voranzukommen. Dabei hätte Corona ein echter Treiber für die VR-Technologie sein können. Statt der wenig emotionalen Video-Meetings und Business-Vorträge etc. in 2D wären Erlebnisse in 3D Virtual Reality doch viel emotionaler, echter. Welche disruptiven Technologien hältst du für die nächsten Jahren am wichtigsten?
Die Technik ist ja immer nur ein Aspekt. Der andere Punkt ist, ob die Technik mein Leben verbessert. Virtual Reality ist qualitativ super, aber sie macht es nicht einfacher! Ein Mega-Treiber ist FAULHEIT! Faulheit besiegt super oft Qualität. Vinyl klingt besser als MP3 und Bluetooth. Aber hey: MP3 gewinnt bei FAULHEIT. Das gleiche bei VR: VR ist sicher besser als ZOOM, aber ZOOM punktet bei FAULHEIT! Innovationen, die das Gleiche EINFACHER MACHER, sind besser als welche, die das Gleiche kompliziert machen (VR-Brille beschaffen, lernen aufsetzen oder Schallplatte teuer kaufen, raussuchen, auflegen, umdrehen). Klar es gibt FANS DER QUALITÄT, aber die MASSE WILL ES FAUL!
Lustigerweise sogar beim Gym! Besser ZUHAUSE fünf Meter neben dem Sofa am Peloton Bike schwitzen, als draußen mit dem Bike fahren. Krass aber wahr.
Hahaha, ja, man muss nicht jeden Trend verstehen … Durch die viele Zeit zuhause wurde unsere Faulheit ja noch unterstützt. Werden wir zu unserem alten Offline-Konsum zurückkehren, wenn Corona überstanden ist?
Nein! Nicht so, wie es kennen. Online punktet super bei FAULHEIT! Online ist bequem, funktional, easy. Aber online ist FAD!
Offline ist nicht wirklich bequem, nicht besonders funktional, weit weg von easy. Aber OFFLINE hat immer eine tief in uns verankerte archaische Attraktivität. Shopping war immer Erlebnis. Denk mal an den orientalischen Basar. Da gab es Händler, Cafés aber auch den Schlangenbeschwörer oder Geschichtenerzähler. Das hat sich gegenseitig zu einer Gesamtexperience befruchtet: ein Reinforcing Circle. Der Schlangenbeschwörer hat den Teppichverkäufer attraktiver gemacht und umgekehrt. Das ist heute auch so in den Innenstädten: Wir wollen nicht nur etwas Bestimmtes kaufen, sondern schlendern, hier noch ein Eis essen und dort einen Kaffee trinken. Dieses Gesamterlebnis kann ein Online-Kauf nicht bieten. Die bei Amazon gekaufte Kaffeetasse macht den Schrank voll, aber die Seele bleibt beim Kauf leer.
Tipp: Wenn Sie digitale Services oder Produkte bieten, überlegen Sie immer, wie Sie den Offline-Menschen, unsere archaische Seele befriedigen können – und nicht nur funktionell ein Problem lösen.
Über 20 Jahre Marketing und Werbung in Hamburg, Los Angeles, München, New York und Wien machen Dietmar Dahmen zu einem echten Kenner von Branding und Marketing, Wandel und disruptiven Strategien. Heute ist er professioneller Speaker, Experte für Disruption bei der European Association for Communications Agencies (EACA), Mitgründer diverser Blockchain-Startups und gefragter Berater, Inspirator, Motivator von Menschen, Marken und Konzernen weltweit.